16708 Hauptseminar

WiSe 12/13: Beschleunigung und Wandlung. Zwischenräume des Nomadischen in der Literatur und im Film der Gegenwart: Christoph Ransmayr und David Lynch (mit Bezugnahme auf Elemente der Musikgeschichte bis zu Rammstein)

Achim Küpper

Kommentar

Ein wesentliches Merkmal der Modernisierung ist die beständig wachsende Geschwindigkeit: von den ersten Eisenbahnen im 19. Jahrhundert über das Automobil bis hin zum Billigflieger oder der aktuellen digitalen Kommunikation in Echtzeit. Gegenwärtig leben wir nicht nur in einer globalisierten, flexibilisierten und mobilisierten, sondern in einer zugleich auch vollständig akzelerierten Welt. Räume der Langsamkeit werden dabei als unfunktional marginalisiert und als im Sozial- und Kapitalgefüge eigentlich nicht nutzenbringend generell auf ein mögliches Minimum reduziert. Eine wichtige Rolle spielen im Gesamtzusammenhang auch die zunehmende Beweglichkeit und Durchlässigkeit der sozialen und familialen Strukturen sowie etwa die Fragmentierung des Begriffs vom "Heim", der sich auf ein Konzept der Bricolage zubewegt. Dies könnte sein wohl anschaulichstes Bild in dem Aufkommen und dem Erfolg der Selbstbauwohnung à la Ikea finden, die neben der Geldersparnis nicht zuletzt auf schnellen Auf- und Abbruch getrimmt ist. Vor dem Hintergrund einer dergestalt ‚nomadisierten' Gegenwart geht das Seminar auf die Konzepte Beschleunigung und Wandlung ein und fragt dabei zugleich nach ihrem Zusammenhang. Der zweite Begriff, derjenige der Wandlung, bezieht sich hierbei gemäß seiner doppelten Wortbedeutung sowohl auf die Wanderung, die Bewegung, die Mobilität als auch auf die Verwandlung, die Metamorphose. In welcher Beziehung stehen Beschleunigung und Wandlung in diesem Sinne also zueinander wie auch zum gesellschaftlichen Kontext einer auf Veränderung und Veränderlichkeit hin angelegten, globalen Weltwirtschaft und ihrer Fluktuationen? Diesen Fragen geht das Seminar mit Blick auf zwei zunächst recht unterschiedliche Werke nach: dem literarischen Werk des österreichischen Gegenwartsautors Christoph Ransmayr und dem filmischen Werk des US-amerikanischen Regisseurs David Lynch. Beide stellen auf ihre eigene Weise Zwischenräume des Nomadischen dar, die sich im Wesentlichen als Gegenentwürfe, als mögliche Heterotopien oder Gegenorte deuten lassen, die - im Medium kritischer Bezugnahme - die sie umgebenden gesellschaftlichen Zustände reflektieren. Jeweils zwei Werke der beiden Künstler dienen im Seminar als Analyseparadigmen. Christoph Ransmayr entwirft in erster Linie Räume der Entschleunigung, die sich als Kristallisationen des Unbehangens in dem kreisenden und sich bewegenden Magma der globalisierten und kapitalisierten Weltgesellschaft anlagern. Die kurze Reportageprosa "Der letzte Mensch. Zu Besuch auf 78° 36' nördlicher Breite", die Ransmayr zusammen mit Rudi Palla verfasst und 1983 in der Zeitschrift "TransAtlantik" veröffentlicht hat, berichtet von einer Einsiedelei in der Einsamkeit der extremen Schnee- und Eislandschaften des hohen Nordens als einer Existenz abseits der Zirkulationen der kapitalisierten Welt und ihrer Beschleunigungen. Der journalistische Text erscheint als Ausgangspunkt und als eine Art Vorform von Ransmayrs Roman "Die Schrecken des Eises und der Finsternis", der ein Jahr später veröffentlicht werden sollte. "Der letzte Mensch" wird im Seminar als ein eigenständiges Werk behandelt und gelesen; dabei sind einige Seitenblicke auf den späteren Roman nicht ausgeschlossen. Nicht unbedeutend ist in Bezug auf den Reportagetext auch die Verflechtung der akkordartigen Getaktetheit des journalistischen und publizistischen Betriebs mit Fragen der ökonomischen Geschwindigkeit und Produktivität. Das zweite Werk Christoph Ransmayrs, das im Seminar in dem entsprechenden Kontext untersucht wird, ist der Ovid-Roman "Die letzte Welt" (1988). Hier macht sich der Protagonist Cotta von Rom aus auf den Weg nach Tomi, der "eisernen Stadt" am Schwarzen Meer, in der römischen Provinz am "Ende der Welt", um nach dem aus Rom verbannten Dichter Naso und seinem legendären Hauptwerk, den "Metamorphosen", zu suchen. Die Reise wird zu einer Wanderung durch eine surreale Welt der Erscheinungen und der Verwandlungen, bei denen Cotta zwar nicht auf den verschwundenen Dichter trifft und auch kein Exemplar seines der Vernichtung des Feuers anheimgegebenen Werks vorfindet, dafür aber auf Figuren und Gestalten aus den "Metamorphosen" selbst stößt. Der Roman spielt in einer im wahrsten sinne ex-zentrischen Zwischenwelt an der Peripherie, in einem Unort irgendwo zwischen Antike und Moderne, Vergangenheit und Zukunft. Durchgängig reflektiert diese Zwischenwelt die Fluktuationen, die Bewegungen, Wanderungen und Beschleunigungen der Außenwelt, und zugleich nimmt sie ihr die Geschwindigkeit und verwandelt sie in einen fremdartigen Kosmos der Bewegungslosigkeit und der Petrifikation. Im Werk von David Lynch lässt sich im Zusammenhang von Beschleunigung und Wandlung durchaus Vergleichbares beobachten. In dem Film "Lost Highway" (1997) verbinden sich Elemente des Road-Movies mit Versatzstücken der Kriminalhandlung und des Psycho-Trips zur Geschichte einer ungeheuerlichen Metamorphose, bei der der Jazz-Saxophonist Fred Madison, dem der Mord an seiner Frau Renee zur Last gelegt wird, über Nacht in das Leben, in den Körper und an die Stelle des jungen Pete Dayton tritt. Durch die Bekanntschaft mit Alice, die - als Femme fatale des surrealen Neo-Noirs - durch dieselbe Schauspielerin verkörpert wird wie Freds Ehefrau Renee, verknüpfen sich die Handlungsstränge zur unentwirrbaren Horrorvision einer Verwandlung, bei der das Auto, die Fahrt und die Geschwindigkeit eine, wenn auch untergründige, so doch tragende Rolle spielen. Der Film enthält zugleich auch Elemente der Punk- und Rockgeschichte, die ebenfalls als ein wichtiger Bestandteil im Zusammenhang mit dem Thema der Beschleunigung und der Bewegung zu besprechen ist: Von David Bowie oder Henry Rollins über Marilyn Manson oder Nine Inch Nails bis hin zu Rammstein rekapituliert der Film Stationen der Musikgeschichte vor allem der 1980er und 1990er Jahre. Das Seminar folgt einer dezidiert plurimedialen Anlage. So wird etwa der Videoclip zu dem Song "Rammstein", der zu David Lynchs Soundtrack gehört und der mit seinem Film in einen vielschichtigen Dialog tritt, ebenso Bestandteil der Analyse sein wie die film- und kunstgeschichtlichen Grundlagen und Vorlagen von "Lost Highway", etwa Federico Fellinis Film "La dolce vita" oder die Gemäldewelten Edward Hoppers. In "The Straight Story" (1999) liefert David Lynch schließlich so etwas wie das Gegenporträt zu dem turbulenten und chaotischen "Lost Highway". "The Straight Story" erzählt die Geschichte des 73-jährigen Alvin Straight, der sich mit seinem Rasenmäher-Traktor von Iowa nach Wisconsin aufmacht, um seinen Bruder Lyle zu besuchen, den er seit zehn Jahren nicht mehr gesprochen und der kürzlich einen Herzanfall erlitten hat. Alvins Gefährt wird zum eigensinnigen Zeichen eines wie zur Zeitlupe verlagsamten Road-Movies durch das ländliche Amerika. "The Straight Story" ist ein Film über das Älterwerden und das Nichtvergessenkönnen, über das Auseinanderdriften der Kernfamilie und über ihre Wiederzusammenfügung. Nach drei Jahrzehnten des Bildersturms und der Zerstörungsschläge auf den Glamour der industrialisierten Filmgeschichte wie auf das Mittelmaß nordamerikanischer Bürgerlichkeit wirft David Lynch hier zum ersten Mal einen versöhnlichen Blick auf das Land und auf die Menschen. Dabei ist ein Film entstanden, der über die innersten Beziehungen berichtet, über die Familie und die Bruderschaft, über Verlust und Zusammengehörigkeit, über die Freundlichkeit und letzthin auch Freundschaft, die am Rande und am Ende des Weges wartet. Dieser Film kann in vielfacher Hinsicht als die entschleunigte Gegenvariante von "Lost Highway" gelesen werden, als ein Film nicht unmittelbar über die Geschwindigkeit der Gegenwart, sondern über den allenthalben bedrängten und abgedrängten Gegenpol hierzu: das Alter und die Langsamkeit. Es ist beinahe, als ob der Regisseur die Wunden schließen wollte, die er knapp drei Jahre zuvor mit einem Film wie "Lost Highway" aufgerissen hat. Inwieweit dies teils auch mit einem ironischen Gestus geschieht oder nicht, wird im Kursverlauf zu klären sein. Das Seminar wird dabei zugleich den vielfältigen Bezügen zwischen diesen beiden Filmen sowie auch ihrer Stellung im Gesamtwerk Lynchs nachgehen. Die Lehrveranstaltung kann unter anderem auch als komplementär zu dem Hauptseminar "Die Wüste und das kalte Ende der Welt in der Literatur und im Film der Gegenwart. Kälte- und Klima-Szenarien bei Christoph Ransmayr und bei Joel & Ethan Coen" aus dem Wintersemester 2011-12 angesehen werden; die Teilnahme an jenem stellt aber keine Voraussetzung für dieses Seminar dar. Die Texte von Christoph Ransmayr, die in dem Klima-Seminar gelesen wurden, stehen hier nicht auf dem Programm; stattdessen wird hier Ransmayrs größtes Werk, "Die letzte Welt", behandelt. Zugleich versteht sich das Seminar als eine Einführung in das filmische Schaffen von David Lynch. Zur theoretischen Fundierung der Themengebung gehören Paul Virilios Arbeiten zur "Dromologie" (von "Vitesse et politique" bis "Le grand accélérateur") oder Claude Pichois' Darstellung zur "Geschwindigkeit und Weltsicht" ("Vitesse et vision du monde") ebenso wie Reinhart Kosellecks Studien zur Historik (v.a. "Zeitschichten"), Hartmut Rosas Darstellung sozialer Akzeleration ("Beschleunigung") oder Marshall McLuhans Mediengeschichte "Die magischen Kanäle" ("Understanding Media"). Die Lektüre der im Kurs zu behandelnden Werke Ransmayrs und Lynchs stellt eine Grundbedingung der aktiven Teilnahme dar. Bis zur zweiten Semesterwoche ist Christoph Ransmayrs und Rudi Pallas Text "Der letzte Mensch" zu besorgen und zu lesen. Zum Lektüreprogramm gehören: - Christoph Ransmayr/Rudi Palla: "Der letzte Mensch. Zu Besuch auf 78° 36' nördlicher Breite". In: "TransAtlantik" 6/1983, S. 65-74; auch in: "Die Erfindung der Welt. Zum Werk von Christoph Ransmayr. Hg. von Uwe Wittstock. Frankfurt a.M. 1997, S. 45-69. - Christoph Ransmayr: "Die letzte Welt. Mit einem Ovidischen Repertoire". 15. Aufl. Frankfurt a.M. 2010. - David Lynch: "Lost Highway". Frankreich, USA 1997. - David Lynch: "The Straight Story". Frankreich, Großbritannien, USA 1999. - Rammstein: "Rammstein" [Musikvideo], auf: YouTube. Von dem Album "Herzeleid". Deutschland 1995. Schließen

16 Termine

Regelmäßige Termine der Lehrveranstaltung

Do, 18.10.2012 10:00 - 12:00

Dozenten:
Dr. Achim Küpper

Räume:
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Do, 25.10.2012 10:00 - 12:00

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Do, 01.11.2012 10:00 - 12:00

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Do, 08.11.2012 10:00 - 12:00

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Do, 15.11.2012 10:00 - 12:00

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Do, 22.11.2012 10:00 - 12:00

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Do, 29.11.2012 10:00 - 12:00

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Do, 06.12.2012 10:00 - 12:00

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Do, 13.12.2012 10:00 - 12:00

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Do, 20.12.2012 10:00 - 12:00

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Do, 10.01.2013 10:00 - 12:00

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Do, 17.01.2013 10:00 - 12:00

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Do, 24.01.2013 10:00 - 12:00

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Do, 31.01.2013 10:00 - 12:00

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Do, 07.02.2013 10:00 - 12:00

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Do, 14.02.2013 10:00 - 12:00

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Studienfächer A-Z