Selbst fortgeschrittene Studierende der Literaturwissenschaft stehen zunächst oft einen Augenblick hilflos vor dem textkritischen Apparat einer Historisch-kritischen Ausgabe, sind ratlos bei der Frage, was dieser Titel überhaupt genau meint - und wird wie Tristram Shandys Mutter fragen "What is all this story about?" Aber selbst professionelle Editoren wissen oft nicht sonderlich viel über den engeren Rahmen ihrer eigenen Ausgabe und deren Tradition hinaus; wissen nicht, dass man unsere Arbeit auch ganz anders gemacht hat, anders machen kann - und in anderen Wissenschaftskulturen noch in diesem Augenblick durchaus anders macht. Wir wollen uns daher aus der geschichtlichen Entwicklung unserer Fachkultur im internationalen Vergleich über die schier unübersehbaren Möglichkeiten des Edierens einen Überblick verschaffen, greifen dabei weit zurück in die Antike, den Hellenismus, die mönchische Abschreibekultur des Mittelalters, den Humanismus; verweilen etwas bei den französischen, italienischen, englischen, niederländischen Philologien der frühen Neuzeit - um uns dann eingehend mit der deutschen Entwicklung vom 18. Jahrhundert bis zur unmittelbaren Gegenwart vertraut zu machen. Denn nur so kann man die manchmal sehr verbissen, ja intolerant geführten Streitigkeiten um die reine Lehre in der Editorik, wie sie unsere Spezialdisziplin in den letzten 60 Jahren begleitet hat, verstehen, sich ein eigenes Urteil bilden und vor allem am Ende selber frei entscheiden, welches wohl für die eigene Problematik bei einem je spezifischen Fall die geeignetste Wahl sein könnte. Nach einer kurzen Einführungsphase, in der wir uns gegenseitig über den gemeinsamen Wissensstand à jour bringen und mit ein paar einfachen Übungen das Geschäft der Edition rekapitulieren, sollen dann anhand praktischer Beispiele editorische Positionen und editionswissenschaftliche Perspektiven von Aristarchs Homer und der Bibel über Dante Shakespeare Goethe Schiller bis wenigstens zu den beiden konkurrierenden Kafka-Editionen vorgestellt werden: Mithin von der Papyrusrolle bis Textgrid. Je nach Größe des Teilnehmerkreises können wir dazwischen uns mit den großen deutschen Kontroversen (Keller Hölderlin Kleist) befassen; die Reihenfolge wird methodensystematisch und dann erst chronologisch sein. Sobald mir eine vorläufige Teilnehmerliste vorliegt, werde ich ein Angebot der Spezialthemen herumschicken. Es gehört zum Wesen einer Blockveranstaltung, dass die Wissensaneignung schon vorher abgeschlossen sein muss: Wir werden also mit unserem Unternehmen nur soweit Erfolg haben, wie Sie alle möglichst viel und vor allem in die Breite gelesen haben werden. Eine Literaturliste und ein entsprechender Seminarapparat werden rechtzeitig vor Semesterbeginn vorgehalten. Literatur: Als Einführung: Bodo Plachtas Büchlein bei Reclam (zu einführender kursorischer Lektüre vor dem Seminar und zur Anschaffung empfohlen). Dann vor allem zur Einübung der Handschrift lässt sich flankierend heranziehen. Vertiefend: O. Stählin: Editionstechnik 21914 [sehr praktisch; freilich ursprgl. für Klassische Philologen]. - Georg Witkowski: Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke 1924. - Gunther Martens / Hans Zeller (Hrsg.): Texte und Varianten 1971 [Stark theorielastig. Bemerkenswert die Artikel von Scheibe und Zeller]. - S. Scheibe (Hrsg.): Vom Umgang mit Editionen 1988. - Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H. T. M. van Vliet und Hermann Zwerschina (Hrsg.): Text und Edition. Berlin 2000. Einführung in die Editionsphilologie der neueren deutschen Literatur. Berlin 1991 (= Grundlagen der Germanistik 31). - Edition et Manuscrits - Probleme der Prosa-Edition. Akten des mit Unterstützung des Centre National de la Recherche Scientifique und der deutschen Forschungsgemeinschaft veranstalteten französisch-deutschen Editorenkolloquiums Paris 1983. Hrsg. von Michael Werner und Winfried Woesler (= Jahrbuch für Internationale Germanistik Reihe A Band 19) Bern u. a. 1987. Schließen