15051 Undergraduate Course

SoSe 14: Vom Belagerungszustand zum Verfassungsschutz. Rechtsform und Formwandel des Ausnahmezustands in D

Doris Liebscher, Carl Melchers

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Die Rechtswissenschaft und die moderne politische Theorie verstehen unter dem so genannten Ausnahmezustand einen Zustand, in dem die staatliche Ordnung für bedroht erklärt wird. Um eine Bedrohung zu beseitigen, können Maßnahmen ergreifen werden, die bestimmte rechtliche Garantien und die Gewaltenteilung außer Kraft setzten - was die fundamentale Einschränkungen verfassungsmäßiger Prinzipien bedeutet. Dadurch wird die Handlungslogik des Rechts - die Begrenzung staatlichen Handelns durch die Regeln der Verfassung - durch die Logik der Zwecke, der "Staatsraison", ersetzt. Dabei soll es sich zumindest in der Theorie um "Ausnahmen" von einem angenommen, rechtlich normierten "Normzustand" handeln (Schmitt 2009). Die getroffene Suspension von Rechten während eines Notstandes soll nach dessen Beseitigung wieder außer Kraft treten. In der Praxis gibt es seit jeher Tendenzen, die vorgeblich zur Wiederherstellung des Normzustandes intendierten Maßnahmen beizubehalten bis sie schließlich der Aufrechterhaltung einer durch sie erst geschaffenen neuen Norm dienen. Wie und wann Staaten sich außerordentlicher Maßnahmen bedienen, unterscheidet sich je nach räumlichen und historischen Umständen beträchtlich. Die geradezu prototypischen Beispiele sind staatliche Reaktionen auf Krieg, Bürgerkrieg oder revolutionäre Situationen, wie etwa in Deutschland im Anschluss an den Ersten Weltkrieg und während der frühen Jahre der Weimarer Republik (Sievers 2013). Die Bekämpfung von solchen Generalkrisen ist historisch in Deutschland aber nicht die Regel. Vielmehr besteht die Tendenz die Notstandsbekämpfung immer mehr in den präventiven Bereich zu verlagern. Durch das preußische Gesetz über den Belagerungszustand von 1951 wurde erstmals in einem modernen deutschen Verfassungsstaat der Ausnahmezustand rechtlich kodifiziert. Dieses Gesetz betraf zunächst noch ausschließlich den Kriegsfall oder inneren Aufruhr, doch schon unter Bismarck diente es als Grundlage zur Verfolgung der Sozialdemokratie auch in Friedenszeiten. Auch der Wirkungsbereich des heute verwendeten Konzepts des "Verfassungsschutzes" liegt schon weit im Vorfeld staatsgefährdender Krisen. Es greift also auch dann, wenn keine unmittelbare existentielle Bedrohung der Staatsordnung in Form von Krieg oder Aufstand besteht. Im Wege der rechtlichen und politischen Durchsetzung des nach 1945 entstandenen Konzepts der "wehrhaften Demokratie" wurden zum Beispiel im Namen des präventiven Schutzes der Verfassungsordnung grundlegende Bürgerrechte sukzessive eingeschränkt. Staatliche Behörden, wie Polizei und Verfassungsschutz erlebten zugleich einen stetigen Machtzuwachs, dessen Ausmaße sich zuletzt im NSU-Skandal zeigten. Ob man angesichts dieser Entwicklungen von einem schleichenden "Ausnahmezustand in Permanenz" sprechen kann und welche Rolle das Recht dabei spielt, wird eine zentrale Fragestellung des Seminars sein. In dem Seminar werden wir uns zunächst einem Überblick der historischen Entwicklung von Belagerungszustand zu Verfassungsschutz in Deutschland erarbeiten. Anhand politik- und rechtswissenschaftlicher Grundlagentexte, Gesetzes- und Verfassungstexte sowie konkreter Gerichtsurteile werden die rechtlichen Voraussetzungen und behördliche und politische Durchsetzung von Konzepten der Notstandsbekämpfung - und damit die These vom "Formwandel des Ausnahmezustands" - untersucht und diskutiert. Dazu gehören zum Beispiel der Belagerungszustand in Preußen und im deutschen Kaiserreich, die Notstandsregelungen in deutschen Verfassungen von 1871 bis 1933/45, die nach 1949 zum Schutz der Freiheitlich demokratischen Grundordnung (FdGO) eingeführten Einschränkungen von Grundrechten (Denninger 1976) und Kompetenzzuwachs des Geheimdienstes. Letzteres reicht in der Praxis vom Extremismusdiskurs (Liebscher 2013) bis zum NSU-Skandal (Wetzel 2013). Betrachtet werden auch aktuelle rechtspolitische Entwicklungen in der Terrorismusbekämpfung (Paye 2005), die Debatte um so genanntes "Feindstrafrecht" (Uwer 2006) und um einen "übergesetzliche Notstand" wie ihn 2007 der deutsche Verteidigungsminister vorschlug, um entführte Passagierflugzeuge zum Zweck der Terrorabwehr abschießen zu können. Denninger, Erhard. Freiheitliche demokratische Grundordnung: Materialien zum Staatsversta?ndnis u. zur Verfassungswirklichkeit in d. Bundesrepublik. 1976. 1. Aufl. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft?; 150. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Liebscher, Doris. 2013. FdGO - Zur Idealisierung des verfassungsrechtlichen Demokratiebegriffs in der Extremismusdebatte, in: Feustel/Stange/Strohschneider, Verfassungsfeinde, Seite 123-133. Paye, Jean-Claude. 2005. Das Ende des Rechtsstaats: Demokratie im Ausnahmezustand. Zu?rich: Rotpunktverl. Schmitt, Carl. 1994. Die Diktatur: von den Anfa?ngen des modernen Souvera?nita?tsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf. Berlin: Duncker & Humblot. ---. 2009. Politische Theologie vier Kapitel zur Lehre von der Souvera?nita?t. Berlin: Duncker & Humblot. Sievers, Rolf. 2013. Die Notstandsregelung der Weimarer Reichsverfassung von 1930-1932/33. GRIN Verlag. Uwer, Thomas, Hrsg. 2006. "Bitte bewahren Sie Ruhe": Leben im Feindrechtsstaat. Vereinigung Berliner Strafverteidiger. Wetzel, Wolf. 2013. Der NSU-VS-Komplex: Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund - wo ho?rt der Staat auf? Mu?nster, Westf: Unrast. close

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