SoSe 15: Das Gesicht - ein Ort der Literatur
Georg Witte
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Das Gesicht ist ein "Ort" der Literatur in mehrfachem Sinn: als in Texten tradierter Topos, als privilegiert signifizierende Stelle des menschlichen Körpers, die einen unendlichen schriftlichen Diskurs seiner Lektüre provoziert, als Bild/Portrait, das einer "Beschreibung" ("Ekphrasis") unterliegt, als gemaltes oder fotografiertes Gesicht des Autors, als "Gesicht" des beschrifteten Papiers.
Das Seminar versucht, der literarischen Bedeutung des Gesichts innerhalb eines Spannungsfelds nachzugehen, das man vorläufig so skizzieren könnte: Auf der einen Seite haben wir die rhetorische Verfasstheit, die Figurativität, das Gesetzte und Behauptungshafte des Gesichts: als Prosopopoiia wird das sprechperfomativ "verliehene" Gesicht im dekonstruktivistischen Diskurs zu einer Art Schlüsselfigur für die Rhetorizität literarischer Texte. Auf der anderen Seite gilt das Gesicht als Inbegriff einer den Makel der Arbitrarität, der maskierenden Konvention, der "willkürlichen Sprache" abstreifenden, "natursprachlichen" und "unmittelbaren" Signifikation - im Sinne der charakteroffenbarenden Physiognomie. Solchem ontologosierenden Verständnis der Signifikationskraft des Gesichts widersprechen pathognomische Konzepte des - kontrollierten wie unkontrollierten - Affektausdrucks. Im mimischen Potential des Gesichts wird der "Ort" zum Handlungs-Ort: Das Gesicht ist eine Aktion.
Es soll vor diesem Hintergrund untersucht werden, wie literarische Texte ihren Figuren Gesichter geben und wie sie ihre Gesichter zu Figuren machen (wie facies und fictio sich bedingen). Es wird zu fragen sein, wie Literatur selbst Teil einer Geschichte anthropologischer Diskurse ist, die das Gesicht immer neu "erfindet" als Überkodierung des Körpers. Dieses "Gesicht" - als kulturelles Konstrukt - lässt sich wiederum in einer Polarität verorten: zwischen der Maske und dem Antlitz. Schließlich ist das Gesicht der Literatur ein Gesicht der Schrift, womit hier eine Phänomenalität des literarischen Texts in seinermedialen Verfasstheit gemeint ist - das Schriftbild, das seinen Leser "anblickt" (besonders manifest in der Poesie).
Vorbereitende Lektüre:
Chase, Cynthia: Einem Namen ein Gesicht geben. In: Haverkamp, Anselm (Hg.): Die paradoxe Metapher. Frankfurt a.M. 1998, S. 414-436.
Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Berlin 1992 (Kapitel 7: "Das Jahr Null. Die Erschaffung des Gesichts").
Eco, Umberto: Die Sprache des Gesichts. In: U. E.: Über Spiegel und andere Phänomene. München 1988, S. 71-82.
Simmel, Georg: Die ästhetische Bedeutung des Gesichts. In. G. S.: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908. Bd. 1 (Gesamtausgabe Bd. 7). Frankfurt a. M. 1995, S. 36-42.
Sartre, Jean-Paul: Gesichter. In: Blümlinger, Christa / Sierek, Karl (Hg.): Das Gesicht im Zeitalter des bewegten Bildes, S, 257-262.
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