SoSe 15: Atom, Kristall, Fraktal. Zu den Beziehungen von Literatur und Naturwissenschaft
Matthias Hennig
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Physikalische Konzepte wie 'Relativität' oder 'Unschärfe' haben in der jüngeren Vergangenheit in größerem Umfang ihren Weg in die Literaturwissenschaft gefunden - Struktur- und Organisationsmodelle wie 'Atom' oder 'Fraktal' hingegen fast überhaupt nicht - möglicherweise weil ihnen die Unbestimmtheit fehlt, die 'Relativität' oder 'Unschärfe' im Blick auf die literarische Moderne und Postmoderne fast zu Passepartout-Begriffen hat werden lassen. Während Atome und Fraktale mit ihren Mustern, Rastern und Gittern so gut wie kaum als literaturwissenschaftliche Bezugsgrößen in Betracht gezogen wurden, ist zumindest der Kristall mit seinen Konjunkturen in Romantik und Expressionismus zu einem Untersuchungsgegenstand der Symbolforschung geworden.
Im Seminar soll jedoch weniger die Darstellung naturwissenschaftlicher Phänomene in der Literatur im Sinne einer bloßen Symbol- oder Motivforschung untersucht werden. Vielmehr wird zum einen Ziel sein, zu fragen, inwieweit Atome, Kristalle und Fraktale als geometrische Strukturmodelle und logifizierende Beschreibungsformeln im Hinblick auf Zeichen, Zeichenordnungen, Texte oder imaginierte Räume einen Anwendungs- und Erkenntniswert haben; und zum anderen, inwieweit eine solche Übertragung naturwissenschaftlicher Modelle auf Poesie und Prosa überhaupt sinnvoll sein kann - sei es als ein formales Strukturprinzip, sei es als übertragendes poetologisches Konzept. Gelesen und diskutiert werden sollen literarische und theoretische Texte u.a. von Lukrez, Paul Scheerbart, Filippo Tommaso Marinetti, Jorge Luis Borges, Italo Calvino, Alain Robbe-Grillet und Carlos Ginzburg. Das Seminar ist darauf ausgelegt, daß die Studierenden die Bereitschaft mitbringen, sich auch in Eigeninitiative Themen und Fragestellungen zum Strukturzusammenhang von Atom, Kristall, Fraktal und Literatur erschließen. Ihre Recherchen zu verschiedenen (teils auch vom Seminarleiter vorgegebenen Themen) sollen in Impulsreferaten vorgetragen sowie im gemeinsamen Seminargespräch gebündelt und systematisiert werden, so daß dieses noch offene Forschungsfeld in Kollektivarbeit befragt werden kann. Auch die Einbeziehung anderer Medien und Strömungen wie der 'Fractal art' oder der digitalen Kunst bietet sich an - Kunstformen, die sich nicht unbedingt länger als die Literatur, dafür aber oft auf offensichtlichere Weise mit fraktalen, atomaren und kristalloiden Mustern auseinandersetzen.
Literatur: Benoît B. Mandelbrot: Die fraktale Geometrie der Natur, Basel: Birkhäuser, 1987; John Briggs/David F. Peat: Die Entdeckung des Chaos. Eine Reise durch die Chaos-Theorie, München: Hanser, 1990; Marianne Schuller/Gunnar Schmidt (Hg.): Mikrologien: literarische und philosophische Figuren des Kleinen, Bielefeld: transcript, 2003; Henrik Leschonski: Der Kristall als expressionistisches Symbol. Studien zur Symbolik des Kristallinen in Lyrik, Kunst und Architektur des Expressionismus (1910-1925), Frankfurt a. M.: Lang, 2008; Jean-Claude Chirollet: La question du détail et l'art fractal, Paris: L'Harmattan, 2011; Marika Natsvlishvili: Naturwissenschaft und Literatur im Dialog. Komparatistische Fallstudien zur europäischen Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2012; Roland Borgards u.a. (Hg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler, 2013.
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