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Hauptseminar
SoSe 16: Das Leben der Form: Russ. Formalismus im internat. Kontext
Georg Witte
Kommentar
Der „russische Formalismus“ (ca. 1915-1930), dem Viktor Šklovskij, Jurij Tynjanov, Boris Ėjchenbaum, Roman Jakobson, Osip Brik u. a. angehörten, soll als ein bis in unsere Gegenwart nachwirkendes literaturwissenschaftliches Forschungsparadigma untersucht werden. Im Mittelpunkt stehen einige exemplarische Arbeiten aus den beiden Zentren dieser Gruppierung – dem Petersburger OPOJAZ (Gesellschaft für die Erforschung der poetischen Sprache) und dem Moskauer Linguistenkreis.
Folgende Aspekte stehen im Vordergrund: das ästhetiktheoretische Konzept der „Verfremdung“ im internationalen Kontext einer Theorie der Differenz (Differenz zwischen poetischer und alltäglicher Sprache, „Differenz“wahrnehmung, „Differenzqualität“ u. a.) und eines dynamisierten und prozessualen Konzepts der „lebendigen“ (statt der „abgestorbenen“) Form; eine „transformative“ Konzeption des Rhythmus; die Grundlegung einer modernen Erzähltheorie; und nicht zuletzt die Ansätze zu einer Medientheorie der Künste avant la lettre (Schriftlichkeit der Literatur, Mündlichkeitssurrogate des literarischen Erzählens, Medienspezifik des Films).
Theoriegeschichtlich hat der Formalismus sowohl für die Entwicklung strukturalistischer Ansätze seit den 1960er Jahren als auch für poststrukturalistische und dekonstruktivistische Ansätze eine prägende Rolle gespielt. Neuerdings werden zudem die wissensgeschichtlichen Kontexte dieser Schule stärker betont, besonders was die Herkunft zentraler Theoreme (etwa „Automatisierung“ und „neues Sehen“) aus zeitgenössischer Wahrnehmungsphysiologie und empirischer Psychologie (Wilhelm Wundt, Hermann von Helmholtz, Sergej Vygotskij) sowie Reflexologie (Ivan Pavlov, Vladimir Bechterev) betrifft. Das gilt ebenso für die Verbindungen „formalistischen“ und „morphologischen“ Denkens.
Doch der „russische Formalismus“ ist nicht nur von theoriegeschichtlich immanentem und wissensgeschichtlichem Interesse – und er würde unter einer solchen Perspektive in seiner gesamten forschenden Haltung (oder „Einstellung“, um einen Begriff der Formalisten selbst zu verwenden) verkannt. Diese Haltung war bestimmt von einem engen Dialog mit der zeitgenössischen literarischen, künstlerischen und politischen Praxis. Die enge wechselseitige Inspiration zwischen Literatur/Kunst/Film der Avantgarde (Andrej Belyj, Vladimir Majakovskij, Velimir Chlebnikov, Sergej Tret’jakov, Ivan Puni, Sergej Ėjzenštejn u.v.a.) und den russischen Formalisten sollen darum hervorgehoben werden. Beide, Wissenschaftler wie Künstler, verband eine genuin experimentierende Einstellung, die starre Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst überschritt. Das betrifft nicht zuletzt auch die von Literaturwissenschaftlern wie Viktor Šklovskij und Jurij Tynjanov verfassten Romane, Erzählungen und dokumentarischen Montagen, die man als Selbstexperimente betrachten kann.
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