SoSe 22: Findlinge, Waisen, Wolfskinder – alternative Kindheiten in der Literatur
Michael Gamper
Hinweise für Studierende
Kommentar
Die Literatur kennt seit der Antike viele bekannte Beispiele ausgesetzter Kinderfiguren. Im 18. Jahrhundert kommt Findlingen jedoch unter verschiedenen Vorzeichen neue gesellschaftliche Aufmerksamkeit zugute: Auch in dieser Zeit werden Kinder weiterhin aus ökonomischer Notwendigkeit oder infolge einer illegitimen Zeugung im Säuglingsalter verstoßen, sie landen nun aber oft nicht mehr unmittelbar auf der Straße, sondern vermehrt in karitativen Einrichtungen mit medizinischer und pädagogischer Expertise. Kinder und im Speziellen Findlinge rücken im Zuge des ‚pädagogischen Zeitalters‘ in den Mittelpunkt des bürgerlichen Erziehungsprojekts, aber auch der sich neuformierenden anthropologischen Wissenschaften, und im napoleonischen Code Civil wird ihre gesellschaftliche Stellung einer juristischen Revision unterzogen. Parallel dazu treten prominente und Aufsehen erregende Fälle wie diejenigen von Kaspar Hauser oder von Victor von Aveyron hervor.
Angesichts dieser soziopolitischen Umwälzungen überrascht es nicht, dass, ausgehend von Henry Fieldings History of Tom Jones, a Foundling (1749), Findlingskinder vermehrt Einzug in die europäische Prosaliteratur halten. Begünstigt durch ihre unbekannte Herkunft und Alterität werden sie zu imaginativen Projektionsflächen; in literarisierter Form scheinen sie auf besondere Weise in die Lage versetzt, ihren passiven Ausgangszustand zu überwinden und in oft ambivalent perspektivierter Weise zu handlungsfähigen Individuen mit hoher sozialer Mobilität und großem Eigensinn zu avancieren.
Das Seminar widmet sich einer Auswahl von deutsch-, englisch- und französischsprachigen Texten, in denen fremde Kinder eine herausgehobene Stellung und einen ausgeprägten Problemcharakter annehmen. Dabei soll untersucht werden, welche ästhetischen, epistemologischen und ethisch-praxeologischen Fragen durch Findlinge als neu konzeptualisierte gesellschaftliche Partizipant:innen thematisierbar werden. Zur Seminarlektüre werden unter anderem Texte von Fielding, Locke, Rousseau, Kant, Goethe, Kleist, Dickens, Hugo, Sand und Stifter zählen. Studienleistungen werden erbracht durch Thesenpapiere oder Essays als Grundlagen für die Seminardiskussionen.
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Regelmäßige Termine der Lehrveranstaltung