SoSe 22: Zum 'non-human turn': Objekte und Apparaturen im Zirkus
Franziska Trapp
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The force of art is precisely that it is more than human. (Manning 2015, S. 65)
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In den letzten Jahrzehnten hat der non-human turn Einzug in die Geisteswissenschaften gehalten. Er wird „als neue[s] Paradigma abendländischen Denkens“ (Folkers 2013, S. 17) verhandelt und umfasst eine Vielzahl an Strömungen. Wirft man einen Blick auf die aktuelle Zirkusszene, wird deutlich, dass dieses Umdenken keineswegs auf die akademische Welt beschränkt ist, sondern auch in (Interaktion mit) der künstlerischen Welt stattfindet – so auch in (Interaktion mit) der Welt des Zirkus.
Was aber unterscheidet ein nicht-anthropozentrisches Stück von anthropozentrischen Aufführungen? Obwohl im Zirkus die Interaktion von menschlichen und nicht-menschlichen Handlungsträgern grundlegend ist, kann der Traditionelle Zirkus, der u.a. mithilfe einer babylonischen Programmstruktur, die die Elemente nach Schwierigkeitsgrad staffelt, und der Unterstreichung der Ästhetik des Risikos durch Trommelwirbel und das dreimalige Misslingen von Tricks die außergewöhnlichen, heroischen Fähigkeiten des Menschen propagiert, als Sinnbild für den Anthropozentrismus gesehen werden. Er stellt also geradezu den Gegenpol zum beschriebenen non-human turn dar. Im Zeitgenössischen Zirkus, der seit Ende der neunziger Jahre Einzug in die internationale Kunst- und Theaterlandschaft hält, sind wir in diesem Zusammenhang mit dem Paradox konfrontiert, dass die Beherrschung der Apparaturen die Voraussetzung ist, um eben jene Beherrschung zu problematisieren. Wenn wir also davon ausgehen, dass ein zeitgenössisches Zirkusstück als Stück des non-human turn klassifiziert werden kann, steht nicht die tatsächliche Veränderung der Relation von menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten im Vergleich zum Traditionellen Zirkus im Fokus, sondern vielmehr die Veränderung der Inszenierung dieser Relation, die die Rezipient*innen zu einem Perspektivwechsel einlädt.
In Kooperation mit Partner*innen aus der Praxis wagen wir im Seminar ein heuristisches Experiment: Wie verändert sich unser Blick und zu welchen neuen Resultaten gelangen wir bei der Analyse von Aufführungen, wenn wir von einer agency der Objekte und Apparaturen ausgehen?
Am 05.05.2022 findet ein gemeinsamer Besuch der Aufführung „The Elephant in the Room“ im Chamäleon Theater statt. Für die Seminargruppe wurden bereits Karten reserviert.
Lektüreliste (Auswahl):
Folkers, Andreas: „Was ist neu am neuen Materialismus? Von der Praxis zum Ereignis“. in: Goll, Tobias/ Keil, Daniel/ Telios, Thomas (Hg.): Critical Matter. Diskussionen eines neuen Materialismus. Münster 2013. S. 17-35.
Grusin, Richard A. (Hg.): The nonhuman turn. Minneapolis 2015.
Lavers, Katie/ Leroux, Louis Patrick/ Burtt John (Hg.): Contemporary circus. Abingdon 2019.
Manning, Erin: „Artfulness“, in: Grusin, Richard A. (Hg): The nonhuman turn. Minneapolis 2015, S. 65.
Tait, Peta: „Risk, Danger and Other Paradoxes in Circus and Circus Oz Parody“. in: Tait, Peta/ Lavers, Katie (Hg.): The Routledge Circus Studies Reader. New York, London 2016. S. 528-545.
Trapp, Franziska: Lektüren des Zeitgenössischen Zirkus. Berlin/Boston, 2020.
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