SoSe 22: Hybride Beziehungen. Eine szenische Untersuchung des Verhältnisses von performenden Körpern zu digitalen Technologien
Marina Dessau
Comments
Auch wenn wir uns nach wie vor offline begegnen, hat sich unsere Realität wie selbstverständlich um den Online-Modus erweitert. Alles-dokumentierende Handycams fangen unsere Selbstdarstellungen ein fürs Netz, Online-Seminare geben Einblick in die Wohnzimmer der anderen und verwandeln sie in halböffentliche Bühnenbilder und ab und zu vergessen wir uns selbst vor dem Bildschirm und landen eine private Körpergeste mitten auf einer gut besuchten Videokonferenz. Die Orientierung zwischen den verschiedenen Kommunikationsräumen verwischt, während wir damit beschäftigt sind, die Übergänge zwischen physischer und digitaler Umgebung, zwischen privater und öffentlicher Situation auszuloten.
Auch im Bühnenraum wird zunehmend hybrid interagiert. Performt wird vor Publikum, das zeitgleich sowohl physisch im Theaterraum als auch digital im Livestream präsent ist. Für Theatermachende stellt das eine besondere Herausforderung dar. Gerade bei interaktiven Formaten oder Spielweisen mit direkter Anspielhaltung müssen dann mindestens zwei gleichzeitig vorhandene, sehr unterschiedliche Qualitäten von Publikumsbeziehung bedacht, szenisch integriert und bespielt werden. Digitale Aufzeichnungs-, Wiedergabegeräte und Schnittstellen spielen dabei eine wesentliche Rolle und bilden die Knotenpunkte zwischen dem Publikum, dem Bühnengeschehen und den Performer:innen, welche wiederum den physischen Bühnenraum und den digitalen Raum jonglieren müssen.
Im szenischen Projekt untersuchen wir das Verhältnis von performenden Körpern zu unterschiedlichen Arten von Publikum. Was lässt sich beobachten, wenn Performer:innen mit einer Livestream-Kamera umgehen, sprich mit einem Avatar-Publikum, das maximal über die Chat-Funktion interagieren kann? Welche Unterschiede lassen sich feststellen im Umgang mit einem physisch anwesenden Publikum? Zeichnen sich (Kamera-)spezifische Verhaltensweisen, wiederkehrende Gesten und Haltungen ab?
Wir streifen weiterhin den privaten, unbeabsichtigten Moment der Selbstvergessenheit vor der öffentlichen Webcam: Bringen die digitalen Technologien neue Kommunikationsverhältnisse mit sich, wodurch sich möglicherweise auch unsere Wahrnehmung für die Grenze zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum verschiebt?
Für die Untersuchung dieser Fragen verwenden wir die Improvisationstechnik und Spielweise „Viewpoints“ (nach Bogart/Landau), die häufig in nicht-psychologischen Inszenierungs- oder Arbeitszusammenhängen angewandt wird. Dabei werden Bühnenvorgänge in klar definierte zeitliche und räumliche Elemente unterteilt, wodurch wiederum körperliche Vorgänge messbar und wiederholbar gemacht werden können. Der nicht-psychologische Ansatz der Trainingsmethode ermöglicht es außerdem, „aus dem Kopf herauszukommen“ und körperlich spontan und entschieden zu reagieren. Auf diese Weise können innere Haltungen und situative Beziehungen in ihrer Unmittelbarkeit freigelegt und sichtbar gemacht werden.
Während einer anfänglichen Einführung in die Methode „Viewpoints“ erkunden wir in einem fortlaufenden, körperlichen Training durch verschiedene Übungen zuerst die 4 zeitlichen und 5 räumlichen Viewpoints. Anschließend wenden wir sie frei an und kombinieren die einzelnen Viewpoints in Improvisations-Einheiten miteinander, wobei wir auch das Spielweisen- und Inszenierungspotential der Methode kennenlernen. Schließlich arbeiten wir mit szenisch integrierten, fixierten und beweglichen Kameras und befragen spielerisch das Verhältnis von performenden Körpern zu digitalen Schnittstellen und Online-/Offline-Publikum.
Marina Dessau studierte Schauspiel am Mozarteum Salzburg. Seit 2005 arbeitet sie an der Entwicklung und Realisierung von Performancetheaterformaten, meist mit dem Label internil. Sie beobachtet stark oszillierendes Verhalten von Menschen im Netz, sucht nach Übersetzungen fürs Theater und beschäftigt sich mit Hochtechnologie für den performativen Körper. https://marinadessau.com
close6 Class schedule
Regular appointments