SoSe 22: Ungeheuerlich! Die Literatur des Monströsen
Stephan Karschay
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Das Monströse lauert seit jeher überall. Das Gilgamesch-Epos (ca. 2000 v.u.Z.) beheimatet Skorpion-Menschen und den furchteinflößenden Waldhüter Humbaba, die homerischen Epen (ca. 800 v.u.Z.) sind von einer Vielzahl an Ungeheuern der griechischen Mythologie bevölkert – vom Zyklopen Polyphem bis hin zum Seeungeheuer Skylla. Die Kultur des 21. Jahrhunderts scheint nicht weniger besessen von totgeglaubten, aber hartnäckig wiederkehrenden, Ungeheuern wie dem Zombie oder dem Vampir. Monster sind dabei (sensu Jeffrey Weinstock) „ontologische Rätsel“: sie mögen zwar nicht in unserer Lebenswelt existieren, sind in der Imagination aber doch allgegenwärtig; gleichzeitig bedürfen sie der wissenschaftlichen Definition und entziehen sich derartigen Annäherungen konsequent. Die Etymologie des Monsters (de-monstrare, lat. ‚zeigen‘ bzw. ‚warnen‘) verweist auf den Status des Ungeheuers als symbolische Repräsentation, die wichtige kulturelle Funktionen erfüllt. In der hybriden Kombination nur scheinbar inkompatibler Merkmale (lebendig/tot, natürlich/künstlich, weiblich/männlich, menschlich/animalisch, jung/alt, spektral/körperlich) destabilisiert das Monströse kulturgeschichtlich spezifische Vorstellungen vom Menschen. Gleichzeitig dient Monstrosität Kulturen als Kategorie der Stigmatisierung, die – wie sich zeigen wird – vergeblich versucht, Oppositionen von gut/böse, gesund/krank, sauber/unrein, hochentwickelt/degeneriert, normal/abnormal aufrechtzuerhalten. Dieses Seminar widmet sich den unterschiedlichen Spielarten des Monströsen in der anglophonen, besonders der englischen, Literatur und begreift das Monströse als symbolische Materialisierung von kulturell und historisch spezifischen Ängsten. So ist der Vampir zwar ein Ungeheuer mit altehrwürdiger (europäischer) literarischer Tradition; doch sind es die spezifischen kulturellen Rahmenbedingungen im England des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die den aristokratischen Blutsauger als besonders britisches Monstrum erscheinen lassen. Eine genaue Übersicht der literaturgeschichtlich weit gestreuten Beispiele wird in der ersten Sitzung vorgestellt, wobei alle Teilnehmer:innen Bram Stokers Klassiker Dracula lesen werden. Das Seminar wird sich auch mit kritischer Theorie aus dem Dunstkreis der Gothic Studies beschäftigen, um den paradoxen Effekten des Monströsen – Abscheu bei gleichzeitigem Verlangen – kritisch nachspüren zu können. Hierbei dürften sich Konzepte wie das Unheimliche (nach Sigmund Freud), das Abjekte (nach Julia Kristeva) und das Groteske (nach Michail Bachtin) als besonders ergiebig für unsere Diskussion von Monstrosität erweisen.
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Zur Anschaffung: Bram Stoker, Dracula [1897], hg. v. Roger Luckhurst (Oxford: Oxford University Press), 2011. [ISBN 978-0199564095]
Zur Einführung geeignet: Judith Halberstam, “Parasites and Perverts: An Introduction to Gothic Monstrosity”, in Skin Shows: Gothic Horror and the Technology of Monsters (Durham: Duke University Press, 1995), 1-27. Jerrold E. Hogle, “Monstrosity”, in William Hughes, David Punter & Andrew Smith, Hgg., The Encyclopedia of the Gothic (Malden, MA: Wiley-Blackwell, 2016), 455-8.
Zu den Spielarten des Monströsen: Jeffrey Andrew Weinstock, The Ashgate Encyclopedia of Literary and Cinematic Monsters (London: Routledge, 2016).
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