16200 Vorlesung

WiSe 12/13: Ein Gang durch die griechische Lyrik am Leitfaden der antiken Dichtungstheorie

Abogast Schmitt

Kommentar

Man muss sich nur an einige große Namen der griechischen Lyrik erinnern - an Sappho, Alkaios, Anakreon, Mimnermos, Solon, Pindar, Kallimachos, Theokrit - , um sich auch die Bedeutung dieser Dichtung wieder präsent zu machen. Nicht nur in der Zeit ihrer Entstehung genossen diese Dichter höchstes Ansehen, sie wurden zum Muster und Vorbild (und manchmal auch zum Gegenbild) in der ganzen Antike - die Werke von Catull, Horaz, Ovid z.B. wären ohne sie nicht denkbar - und über sie hinaus für die ganze Neuzeit, z.T. bis in die Gegenwart. Was Dichtung ist, das schien man von diesen Lyrikern lernen zu können. Umso erstaunlicher ist, dass wir uns mit der Interpretation dieser Dichtungen bis heute schwer tun, ja dass nicht einmal geklärt ist, zu welcher Art von Dichtung, d.h. zu welcher Gattung diese 'Lyrik' gerechnet werden muss. Da es schon in der Antike hoch differenzierte Reflexionen über das, was überhaupt Dichtung ist und welche Arten man unterscheiden kann, gegeben hat, wollen wir uns in der Vorlesung zuerst mit diesen beiden Fragen: 'Was ist Dichtung?' und 'In welche Arten kann man Dichtung gliedern?' befassen. Diese allgemeinere Fragestellung führt nicht etwa zu einer Ablenkung vom eigentlichen Thema, sondern mitten hinein. Denn im Sinn eines nachromantischen Lyrikbegriffs, für den Lyrik vor allem Ausdruck subjektiver Empfindung und ihrer mehr oder weniger konstruierten Formung ist, können viele antike Dichtungen, die uns unter dem Begriff 'lyrische Dichtungen' überliefert sind, überhaupt nicht unter diesen Begriff subsumiert werden. Es gibt Aufforderungen zu mutigem Kämpfen, Ermahnungen zu einem guten Leben, Lieder zu geselligen Anlässen verschiedenster Art, Satire und Spottgedichte, Gedichte, die loben und rühmen, gedankliche Stellungnahmen zu menschlichem Handeln, aber auch Gedichte, die Gefühle der Liebe, des Hasses, der Sehnsucht, der Verzweiflung usw. ausdrücken, daneben auch lange, scheinbar epische Erzählungen und vieles mehr. Schon in der Antike versuchte man dieser Vielfalt Herr zu werden, indem man sie einfach nach der metrischen Form unterschied. Dagegen haben vor allem Platon und Aristoteles in ihren Dichtungstheorien ein am Inhalt orientiertes Dichtungsverständnis gesetzt - in dem nun aber die Lyrik gar keine ausdrückliche Behandlung erfahren zu haben scheint. Am Leitfaden vor allem der aristotelischen Dichtungstheorie wollen wir zu klären versuchen, mit welchen Kriterien man Dichtungen versteht, die weder Epen noch Tragödien oder Komödien (das sind die drei explizit behandelten Gattungen bei Aristoteles) sind. Dabei ergeben sich sehr viele Gesichtspunkte, die hilfreich zur Beantwortung der Fragen sind, wie man überhaupt literarische von nichtliterarischen Texten unterscheidet, worauf die poetische Qualität literarischer Texte beruht und nach welchen Kriterien man die verschiedenen Inhalte und Formen, in denen man Dichtung gestalten kann, beurteilen kann. Die Gesichtspunkte, die man aus diesen theoretischen Grundlagen gewinnen kann (und die in der Vorlesung auch gegen neuere oder gegenwärtige Kriterien abgegrenzt werden sollen), sollen an der Interpretation der wichtigsten Gruppen antiker Lyrik erprobt werden. Auf diese Weise wollen wir den Versuch machen, einen Überblick über die verschiedenen Arten lyrischer Poesie in der Antike zu gewinnen und einige Ordnungsgesichtspunkte erarbeiten, die die Vielfalt der Äußerungsformen zu gliedern erlauben, und dabei vor allem uns um die Gesichtspunkte bemühen, die ein Verständnis der außergewöhnlichen Qualität dieser Dichtung - und ihrer ebenso außergewöhnlichen Wirkung über mehr als 2000 Jahre europäischer Literaturgeschichte - möglich machen. Als Textgrundlage (und als erste Einführung) für die ältere griechische Lyrik kann man benutzen: Joachim Latacz, Die griechische Literatur in Text und Darstellung: Bd.1,Archaische Periode, Stuttgart, Reclam 1999 (u.ö.), 14,- Euro. Texte für Lyrik aus dem Hellenismus werden gestellt. Zur Vorbereitung empfohlen: Bowra, C., Greek Lyric Poetry, Oxford 1961 (2.Aufl.) Schadewaldt, Die frühgriechische Lyrik, Frankfurt a. Main 1989 Fowler, R., The Nature of Early Greek Lyric, Toronto 1987 Fränkel, H., Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, München 1962 Snell, B., Die Entdeckung des Geistes, Göttingen 1986 (6.Aufl.) Radke, G., Die Kindheit des Mythos, München 2007 dies., Sappho Fragment 31 (LP). Ansätze zu einer neuen Lyriktheorie, Abhandlungen der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Stuttgart 2005. Zur Einführung in die Gattungsproblematik: Färber, H., Die Lyrik in der Kunsttheorie der Antike, München 1936. Staiger, E., Grundbegriffe der Poetik, München 1975 Lamping, D., Das lyrische Gedicht, Göttingen 1993 Klaus W. Hempfer, 'Gattung', in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Berlin-New York 2007, Bd. 1, 651-654. Ders., Gattungstheorie, München 1973. Schließen

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