Jenseits der revolutionären Rhetorik vollzieht sich die Verabschiedung traditioneller normativer Vorschriften und Verfahren in der europäischen Genieepoche (1750-1850) nicht prinzipiell regelverachtend. Vielmehr werden nun in hohem Maße natürliche Ordnungsmuster postuliert, die es dem Genie ermöglichen, mit Vernunft und allen Sinnen, d. h. als ganzer Mensch, zu einem zweiten Schöpfer unter Jupiter (Shaftesbury) zu werden. Es sind gerade die Konzeptionen des genialen Wissenschaftlers/Künstlers, die diese mit anthropologischen Qualitäten wie einem gesteigerten Wahrnehmungs-, Unterscheidungs- und Einfühlungsvermögen ausstatten (z. B. Batteux, Baumgarten, Lenz). Die angestrebte Gottesähnlichkeit soll dabei nicht länger aus dem Wirken eines dem Menschen zugeteilten Genius resultieren, sondern durch die menschliche Nachahmung der schaffenden Natur (natura naturans) selbst. Für einen solchen ›genialen‹ Nachahmungsprozess werden Regeln entworfen, die sowohl die wissenschaftliche Beobachtung der Natur als auch die Verfahren künstlerischer Darstellung steuern sollen. In der Lehrveranstaltung wird eine Übersicht über die Geschichte des Genie-Begriffes (Antike bis 20. Jahrhundert) erarbeitet. Durch die Lektüre zentraler Textausschnitte aus dem europäischen Geniediskurs des 18. Jahrhunderts wird dabei insbesondere nach der Indienstnahme des Genies für die neuzeitliche Wissensproduktion sowie nach den damit einhergehenden Transformationsprozessen göttlicher Inspirationsmodelle gefragt. Zur Einführung empfohlen: Eberhard Ortland, Genie [Artikel], in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hrsg. Karlheinz Barck u.a., Stuttgart u. Weimar 2001, Bd. 2, p. 660-709. Schließen