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Seminar
WiSe 16/17: Kulturkonzepte der russischen Moderne: Vom Bachtin-Kreis zur Kultursemiotik
Willi Reinecke
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Die Tartu-Moskauer Schule der Semiotik und der Kreis um Michail Bachtin haben wesentliche Begriffe der Literatur- und Kulturtheorie des 20. Jahrhunderts geprägt.
Das Seminar erkundet anhand von Konzepten wie Karneval, Explosion oder Grenze verschiedene Manifestationen von Überschreitung. Lotman definiert ein Ereignis im Text als die „Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes“. Der Begriff dient hier der Systematisierung der narrativen Struktur eines Textes. Bachtins Ereignis-Begriff ist viel weiter gefasst und spielt in einem philosophisch-anthropologischen Rahmen mit dem Verhältnis von Ich und Du (so-bytie). Ist bei Lotman die Verletzung eines Verbotes ein Ereignis, diskutiert Bachtin die Außerkraftsetzung der herrschenden Ordnung in der Karnevalisierung (eines Textes).
Das Überschreiten der Ordnung hat wiederum Bezüge zur formalistischen Theorie der Verfremdung. Bachtins Gegensatz von autoritärer Hochkultur und inoffizieller Volkskultur stehen Lotman und Uspenskij mit dem Dualismus einer heidnisch-christlichen „Doppelkultur“ gegenüber. Ihre Kulturtypologie sucht nach den universalen Merkmalen von Zeichensystemen und Modellen. Dieser am Strukturalismus orientierte wissenschaftliche Ansatz ist dem Bachtin-Kreis (u.a. Vološinov, Medvedev) in Distanzierung zur Semiotik fremd geblieben: Kode ist für Bachtin lediglich „getöteter Kontext“. Lotmans Spätwerk untersucht die explosive, kreative und unvorhersehbare Transformation von Kultur. In der Rezeption wurde dies zum Teil als Annäherung an die Dialogik Bachtins verstanden.
Die Metaphern kultureller Dynamik werden im Seminar verglichen: Peripherie und Zentrum bei Lotman, zentrifugal und zentripetal bei Bachtin. Bachtins Außerhalbbefindlichkeit (vnenachodimost’) widmet sich ebenso dem Innen und Außen. Autor und Protagonist, Ich und Anderer und auch das Ich in seinem Selbstverhältnis sind nicht deckungsgleich, befinden sich außerhalb voneinander. Bachtin geht somit personalistischer vor und sucht den Kern menschlicher Aktivität in konkreten Äußerungen. Die Verbindungen der Tartu-Moskauer Schule und des Bachtin-Kreises sind dennoch vielfältig. Uspenskijs von Bachtin und Vološinov inspirierte „Poetik der Komposition“ analysiert minutiös einen anderen Aspekt von Überschreitung, diejenige zwischen verschiedenen Erzählperspektiven. Im Seminar werden weitere Quellen und Entwicklungslinien beider Gruppen rekonstruiert sowie der sowjetische und westliche Kontext erschlossen.
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Suggested reading
Avtonomova (2009): “History, Structure, Explosion“. In: Russian Studies in Philosophy, 48:2, S. 28–46.
Erdinast-Vulcan/Sandler (2015): “Bakhtin and His Circle“. In: Grishakova/Salupere (Hg.): Theoretical Schools and Circles in the Twentieth-Century Humanities. Literary Theory, History, Philosophy, S. 23–40.
Frank/Ruhe/Schmitz (2010): „Jurij Lotmans Semiotik der Übersetzung“. In: Lotman: Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur, S. 383–416.
Sasse (2010): Michail Bachtin zur Einführung.
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