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Hauptseminar
WiSe 19/20: Im Blick des Philologen: Neue serielle Erzählformen
Elisabeth Paefgen
Kommentar
Die Entwicklung von ausgreifend langen Fernseherzählungen, die sie sich seit dem Ende der 1990er Jahre abgezeichnet und die in der Gegenwart neue fernsehunabhängige Experimente gestartet hat, beschäftigt zunehmend auch philologische Disziplinen, da diese Formate mit literaturbekannten Techniken arbeiten: Narrative Komplexität, ambivalente Figurengestaltung und epische Erzählbögen sind inzwischen selbstverständliche Bestandteile geworden, auch von solchen Serien, die ein großes Publikum anziehen. Die neuen Serien greifen auf die in Jahrhunderten der Kultivierung des Erzählens ausgebildeten Möglichkeiten zurück, sie orientieren sich an Literatur, sorgen durch Vielfalt und Ambivalenz ihrer Charaktere für eine psychologische und dramatische Komplexität des Erzählen, behandeln durchaus kontroverse Themen der Sexualität und Religion und scheuen nicht vor einer Ästhetik der Drastik bei der Darstellung von Gewalt und Sexualität zurück. Serien können sich einen für die filmische Narration ganz unüblichen, der Literatur hingegen wohlvertrauten, großzügigen Umgang mit Zeitmaßen erlauben und ihre Story mit zahlreichen Widersprüchen, Um- und Abwegen, Nebenhandlungen etc. ausgestalten. Unmittelbare Verständlichkeit ist nicht länger das Ziel, Unverständlichkeit wird in Kauf genommen oder sogar angestrebt. Die Neuen Serien erzählen ihre Geschichten so komplex, kompliziert und avanciert, dass ihnen auch von dem Fernsehwissenschaftler Jason Mittell attestiert wird, ihre Zuschauer „zu Amateur-Narratologen“ zu erziehen und sie darin zu schulen, „Konventionen von Brüchen [zu] unterscheiden, Chronologien [zu] rekonstruieren und Inkonsistenzen ebenso wie Kontinuitäten über Episoden oder sogar Staffeln hinweg [zu] beobachten.“ Narratologie ist aber ein Aufgabengebiet der philologischen Arbeit; sie gehört zu den Instrumentarien und Untersuchungskategorien, mit denen Textwissenschaftler epische Erzählformen längeren oder kürzeren Ausmaßes unter die Lupe nehmen. Aus diesem Grund wundert es nicht, dass sich auch Philologen von der avancierten Konstruktion der Neuen Serien angesprochen und herausgefordert fühlen: Ihre Kenntnisse, ihr Wissen und ihre Techniken sind dienlich, um die komplex-komplizierte Struktur und Darstellung dieser Neuen Serien zu erläutern, zwar mit dem besonderen Blick auf die schriftliterarischen Vorgänger, auf die Verwandtschaften bzw. Divergenzen zwischen den beiden Erzählformen.
In diesen Diskurs will sich das Seminar einschalten, mit einem Studium der theoretischen Literatur wie auch mit der genaueren Untersuchung einiger serieller Beispiele auf ihre formale und inhaltliche Konstruktion hin. Dabei sollen bestimmte Motive ebenso eine Rolle spielen wie der Vergleich von genreähnlichen Serien bzw. Gestaltungsauffälligkeiten bestimmter Sequenzen oder gar Episoden. Unser durch die Literatur und die Literaturwissenschaft erworbenes Wissen soll die Hintergrundfolie bilden, um die aktuellen Erzählformen film-philologisch unter die Lupe zu nehmen.
Literatur:
Dreher, Christoph (Hg.): Autorenserien. Die Neuerfindung des Fernsehens. Auteur Series. The Re-invention of Television. Stuttgart 2010.
Eco, Umberto: Serialität im Universum der Kunst und der Massenmedien. In: Ders.: Streit der Interpretationen. Hamburg 2005 [1987], S. 81-111.
Hayward, Jennifer: Consuming Pleasures. Active Audiences and Serial Fictions from Dickens to Soap Opera. Lexington 2009 [1997].
Mittell, Jason: Narrative Komplexität im amerikanischen Gegenwartsfernsehen. In: Frank Ketteler, Frank (Hg.), Populäre Serialität. Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert. Bielefeld: transcript 2012 [2006], S. 97-122.
Mittell, Jason: Complex-TV. The Poetics of Contemporary Television Storytelling. New York 2015.
Hans Harald Brittnacher/Elisabeth K. Paefgen (Hg.), Im Blick des Philologen. Literaturwissenschaftler lesen Fernsehserien. München (im Erscheinen)
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