WiSe 19/20: Vulnerabilität. Ethik von Verwundbarkeit in Theater, Tanz und Performance
Alexander Schwan
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Vulnerability, übersetzt mit ,Verletzbarkeit‘, ,Verwundbarkeit‘ oder ,Vulnerabilität‘, ist ein wichtiger Grundbegriff für zeitgenössische ethische Diskurse. In jüngeren Texten Judith Butlers nimmt er eine Schlüsselposition ein und ist hier eng verbunden mit Fragen von Performativität und Politik. Dabei geht Butler von einer vorursprünglichen Vulnerabilität aus, einem über die Offenheit für Andere immer schon geschehenen Affiziertsein und einer grundsätzlichen menschlichen Verletzbarkeit und Gefährdung. Aus dieser primordialen Schutzbedürftigkeit lassen sich mit Butler, aber auch mit Texten von Emmanuel Levinas und Hannah Arendt, ethische Perspektiven gewinnen, die für die Tanz- und Theaterwissenschaft von großer Relevanz sind. Alternativ zu Ästhetiken des Partizipativen, Immersiven und dem Vertrauen auf Gemeinschaftserfahrung in Theater, Tanz und Performance kann mit der Denkfigur der Vulnerabiliät die Relation von Körpern auf der Bühne und mit den Körpern im Publikums neu und mit spezifisch ethischen Begriffen gedacht werden. Thematisiert wird so die grundlegende Erfahrung eines Bühnenereignisses, bei dem sich Tänzer*innen und Performer*innen den Blicken des Publikums aussetzen und ihre Verletzbarkeit offen präsentieren. Vielleicht ist dies eine Spezifizität von Tanz und Theater, eine Chance und Aufgabe: im geschützten Raum Wunden zu zeigen, Traumaerfahrungen Gestalt zu geben und so Vulnerabilität als Paradigma menschlicher Existenz sichtbar zu machen.
Wir werden im Seminar einflussreiche Texte zum Themenspektrum von Ethik und Vulnerabilität lesen (Hannah Arendt, Judith Butler, Emmanuel Levinas) und uns eingehend mit Elaine Scarrys Relationierung von Körper und Schmerz auseinandersetzen (Elaine Scarry, The Body in Pain/Der Körper im Schmerz). Einbeziehen werden wir dabei die lange Tradition der dramenliterarischen und performativen Thematisierung von Schmerz, Wunde und Verletzung, die von Sophokles (Philoktet) über Passionsspiele und Parzivalstoff bis hin zum Ausstellen von Verwundbarkeit in postmoderner und zeitgenössischer Performance-Kunst reicht. Diskutieren werden wir auch theatertherapeutische Ansätze und Methoden sowie die Denkfigur der Resilienz (Widerstandsfähigkeit), die parallel zur Vulnerabilität den zeitgenössischen ethisch-ästhetischen Diskurs im Tanz- und Performancebereich prägt. Abgerundet wird das Seminarprogramm durch ausgewählte Vorstellungsbesuche des Disability & Performing Arts Festival NO LIMITS 2019 und der Tanztage 2020, die das Paradigma der Vulnerabilität reflektieren.
Alle Seminarteilnehmenden übernehmen für jeweils eine Sitzung die Rolle von Expert*innen und bereiten sich darauf mit eigenständiger Recherche und vertiefender Lektüre vor. Auf der Basis dieser Forschungsarbeit entwickeln die Expert*innen Mindmaps, die die Theorienkonzeptionen und Problemkomplexe der jeweiligen Sitzung für den Kurs visualisieren.
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