16722 Advanced seminar

WiSe 20/21: m/w/d - Konstruktionen von Geschlechtsidentität in Literatur und bildender Kunst der Frühen Neuzeit

Wolfgang Neuber

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Bekanntlich sind die – vor allem westlichen – Gesellschaften zur Zeit mit kaum einem sozialen Phänomen mehr beschäftigt, als mit der Genderfrage. Die vielfach in Zweifel gezogene sexuelle Binarität des Menschen hat ihre Ursprünge in der Antike (Bibel: Genesis; Platon; Medizintheorie). Je nach Standpunkt kann allerdings gesagt werden, dass die mythologische Figur des Hermaphroditos den Binarismus durch die Vereinigung von männlichen und weiblichen körperlichen Merkmalen entweder verfestigt, in Zweifel zieht oder gar aufhebt: Für Platon ist die Trennung der Geschlechter ein Akt göttlicher Strafe. – Für die Frühe Neuzeit ist der Binarismus einerseits in den medizinischen und theologischen Diskursformationen festgeschrieben und mit moralischen Ansprüchen an die jeweilige Geschlechtsrolle behaftet, die sich aus den physiologischen Gegebenheiten (kognitive Fähigkeiten) und heilsgeschichtlichen Voraussetzungen (Untergebenheit der Frau) ableiten. Andererseits durchzieht die frühneuzeitliche Literatur und Gesellschaften ein Diskurs, der diesen Binarismus unterläuft: Das Phänomen des geschlechtlichen Rollentausches ist belegte Praxis der Täuschung bei Soldaten und Piraten (Frauen verkleiden sich als Männer, um eine entsprechende Tätigkeit ausüben zu können) sowie bei Schauspielern und Sängern (bis ins 17. Jahrhundert dürfen Frauen nicht auf der Bühne auftreten, Männer übernehmen die weiblichen Rollen in weiblicher Kleidung); aber auch als literarisches Motiv findet sich der täuschende Rollentausch in beiden Richtungen (vgl. Stieler). – Damit wird deutlich, dass jenseits der moralischen Normen von gendergerechtem Verhalten vor allem der Kleidung ein wesentliches Moment der Gender-Identifikation zukommt. Es ist allerdings interessant, dass gerade auf dem Gebiet der Mode der Binarismus zu einem gewissen Grad unterlaufen wird: Bis zur Französischen Revolution, die den (männlichen) Bürger als Gattungswesen der Menschheit konstruiert und in seiner Erscheinung sexuell neutralisiert sowie den weiblichen Körper allein als sexuellen Leib konstruiert – bis zur Französischen Revolution also ist auch der männliche Körper (wenigstens in den Oberschichten) ein zur Schau gestellter sexueller Leib; Männer schminken sich, tragen hohe Absätze, kurze Röcke oder „Shorts“ und Strumpfhosen und haben langes Haar, entweder natürlich oder durch Perücken. Der postrevolutionäre Bürger wird diese Phänomene bis heute als „weibisch“ perhorreszieren. – Das Seminar verfolgt diese Konstellationen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (de Sade). Die Lehrveranstaltung findet als Blackboard-Seminar statt. Terminvereinbarungen für telefonische Sprechstunden sind ausdrücklich erwünscht! Für die Bestätigung der aktiven Teilnahme müssen vier schriftliche Arbeiten im Umfang von je etwa fünf Seiten eingereicht werden. Hausarbeiten für eine Note sind bis zum 28. Februar 2021 abzugeben. Textquellen: Platon: Symposion (um 380 v.u.Z.; v.a. 189a1–193e2) Medizintheorie (Hippokrates, Plinius, Galenos) Antonio Beccadelli: Hermaphroditus (1425) Das Nonnenturnier. In: Novellistik des Mittelalters. Märendichtung. Hg., übers. u. komm. v. Klaus Grubmüller. Frankfurt a.M. 1996 (= Bibliothek des Mittelalters 23; Bibliothek deutscher Klassiker 138). S. 944-977. Piccolomini: Euryalus und Lucretia. Übers. u. hg. v. Herbert Rädle. Stuttgart 2014 (= RUB 8869). Digitalisat der EA Basel 1473/74: http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ink/content/pageview/7222029 Albrecht von Eyb: Ob einem manne sey zunemen ein eelichs weyb („Ehebüchlein“, 1472) https://daten.digitale-sammlungen.de/0003/bsb00034298/images/index.html?fip=193.174.98.30&seite=5&pdfseitex= Castiglione: Il Libro del Corteggiano (1528; dt.: Das Buch vom Hofmann) Justus Menius: An die hochgeborene Fürstin Fraw Sibilla hertzogin zu Sachsen / Oeconomia Christiana / das ist / von Christlicher Haußhaltung. Wittenberg 1529. https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht?PPN=PPN735083193&PHYSID=PHYS_0005&DMDID= Vom Ehfriden / Ein Guldin Kleynot / Keyser Sigmunden zugeschickt. Frawen Beuelch / beneben außlegung des XXXI. Ca. der Sprüche Salomonis. Christliche Haußhaltung Justi Menij. Tägliche übung eins Christlichen Haußvatters mitt seinem haußgesind. Frankfurt 1535. https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10997704_00005.html Sachs/Amman: Ständebuch (1568) Fischart: Flöh Hatz / Weiber Tratz. Straßburg 1573. https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht?PPN=PPN844100196&PHYSID=PHYS_0007&DMDID= Harsdörffer: Frauenzimmer-Gesprächspiele (1644-1657) Stieler: Der Vermeinte Printz. Rudolstadt 1665. https://reader.digitale-sammlungen.de//resolve/display/bsb10862193.html de Sade: Justine (1787) Bildquellen: Polykles: Schlafender Hermaphrodit (Skulptur, 2. Jh. v.u.Z.) Parzival und Condviramur. Handschrift aus der Werkstatt von Diebold Lauber, Hagenau (15. Jahrhundert), Heidelberg, Cod. Pal. germ. 339, 135r (um 1440) https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/ba/Parzival.Lauber.jpg Meister der Karlsruher Passion: Die Geißelung Christi (Mischtechnik auf Nußholz, Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle, um 1450/55) https://www.akg-images.de/Docs/AKG/Media/TR3_WATERMARKED/b/9/8/a/AKG321453.jpg Rueland Frueauf d. Ä.: Geißelung Christi (Gemälde, Österreichische Galerie Belvedere, 1491) https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/74/Rueland_Frueauf_d._%C3%84._-_Gei%C3%9Felung_Christi_-_4841_-_Kunsthistorisches_Museum.jpg Hans Holbein d.Ä.: Geißelung Christi (Mischtechnik auf Fichtenholz, Historisches Museum Frankfurt am Main, 1501) https://sammlung.staedelmuseum.de/de/werk/geisselung-christi Jakob Seisenegger: Karl V. mit Hund (Ölgemälde, KHM, 1532) https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/76/Jakob_Seisenegger_001.jpg nach Hans Holbein: Heinrich VIII. (Ölgemälde, Walker Art Gallery Liverpool, ca. 1536) https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f9/After_Hans_Holbein_the_Younger_-_Portrait_of_Henry_VIII_-_Google_Art_Project.jpg Sachs/Amman: Ständebuch (1568) Hans Weigel: Habitus praecipuorum populorum tam virorum quam feminarum (1577) https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/2LHQ7LI6NV4BAENGH6437KKKVJZYPPP3 Unbekannter Maler: Philipp II. (Ölgemälde, um 1580) https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/14/Philip_II%2C_King_of_Spain_from_NPG.jpg Gian Lorenzo Bernini: Schlafender Hermaphodit (Skulptur, 1620) Wenzel Hollar: Ornatvs Mvliebris Anglicanus or The Severall Habits of English Women from the Nobilitie to the country Woman, as they are in these times (1640) Wenzel Hollar: Mvliervm sive Varietas atque Differentia Habituum Foeminei Sexus, diuersorum Europae Nationum hodierno Tempore vulgo in vsu (1643) Wenzel Hollar: Aula Veneris sive Varietas Foeminini Sexus, diversarum Europae Nationum, differentiag habituum, ut in quaelibet Provincia sunt apud illas nunc vsitati (1644) Hyacinthe Rigaud: Louis XIV (Ölgemälde, Louvre, 1701) https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/5f/Louis_XIV_of_France.jpg Literatur: Bourdieu: Die männliche Herrschaft. Frankfurt a.M. 5. Aufl. 2020 (= stw 2031). Achim Aurnhammer: Androgynie. Studien zu einem Motiv in der europäischen Literatur. Köln u.a. 1986 (= Literatur und Leben. N.F. 30). Androgyn. „Jeder Mensch in sich ein Paar!?“ Androgynie als Ideal geschlechtlicher Identität. Hg. v. Hartmut Meesmann u. Bernhard Sill. Weinheim 1994. Manlîchiu wîp, wîplich man. Zur Konstruktion der Kategorien „Körper“ und „Geschlecht“ in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hg. v. Ingrid Bennewitz u. Helmut Tervooren. Berlin 1999 (= Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie 9). Stephan Bernard Marti: Androgynität. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Band 1. Stuttgart / Weimar 2005. Michela Seggiani: Warum tragen Männer keine Röcke? (2010) https://www.unibas.ch/de/Forschung/Uni-Nova/Uni-Nova-115/Uni-Nova-115-Roecke.html Jutta Eming: Der Kampf um den Phallus. Körperfragmentierung, Textbegehren und groteske Ästhetik im „Nonnenturnier“. In: German Quarterly 85 (2012). H. 4. S. 380-400. close

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