WiSe 21/22: Realabstraktes Kino
Hauke Lehmann
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„Die Lage“, schreibt Bertolt Brecht 1931, „wird dadurch so kompliziert, daß weniger denn je eine einfache ,Wiedergabe der Realität‘ etwas über die Realität aussagt. Eine Photographie der Krupp-Werke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus. Es ist also tatsächlich ,etwas aufzubauen‘, etwas ,Künstliches‘, etwas ,Gestelltes‘.“
Die Ausgangsthese des Seminars lautet: die von Brecht beschriebene Schwierigkeit liegt darin begründet, dass der Kapitalismus die (menschliche Wahrnehmung der) Welt tiefgreifend verändert hat. Die Abstraktionen seiner Wertschöpfungsprozesse sind Realität geworden. Zusammenfassen lässt sich dieser Sachverhalt unter dem Begriff der Realabstraktion. Man kann wohl behaupten, dass „die Lage“ in dieser Hinsicht seit 1931 nicht weniger kompliziert geworden ist. Vielmehr scheint sich sowohl die Undurchdringlichkeit als auch die Durchschlagskraft jener Prozesse im digitalen Kapitalismus exponentiell gesteigert zu haben.
Diese Diagnose stellt Theorien ästhetischer Erfahrung ebenso wie künstlerische Poetiken vor eine Herausforderung: wie lässt sich das Unsinnliche sinnlich erfahrbar machen? Bzw. wie wird das Abstrakte im Akt des Filme-Sehens verkörpert? Das Seminar beschäftigt sich zur Klärung dieser und verwandter Fragen zum einen mit Texten, die das Phänomen der Realabstraktion umkreisen (von Marx bis Derrida), und zum anderen mit Filmen, die sich mehr oder weniger direkt mit der durch den Kapitalismus angestoßenen Veränderung der Wirklichkeit auseinandersetzen und seine phantasmatische, gespenstische Logik als ästhetische Erfahrung inszenieren – von den 1970er Jahren bis heute. Dabei wird die Rolle der Filme ebenso als theoriebildend verstanden, wie die Texte daran beteiligt sind, neue Bilder und Vorstellungen zu produzieren.
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