SoSe 14: Die Aristotelische Poetik und ihr Einfluss auf die europäische Literaturtheorie
Abogast Schmitt, Gyburg Uhlmann
Hinweise für Studierende
Kommentar
Aristoteles, der die wohl erste systematische Literaturtheorie Europas geschrieben hat, ist es außergewöhnlich gut gelungen, zu erklären, worin die Qualität der großen griechischen Literatur von Homer bis in seine Zeit besteht. Sein Versuch, die Kriterien zu entwickeln, durch die man das, was Dichtung zu Dichtung macht, unterscheiden kann von möglichen anderen Formen schriftlicher Äußerungen hat aber eine weit über die Deutung der griechischen Literatur hinausgehende Relevanz. Denn er stellt ein Konzept von Literatur vor, das nicht an eine bestimmte historische Verwirklichung gebunden ist. Es konnte in verschiedenen Zeiten immer wieder neu aufgegriffen und zur Grundlage eigener Produktion wie Rezeption von Literatur gemacht werden.
In der Antike wurde Aristoteles' Literaturtheorie allerdings nach seinem Tod abgelöst durch ein von Grund auf neues Literaturverständnis, das an die Moderne vor allem durch Horaz weitergegeben wurde. Die Renaissance hat die beiden Konzepte, das Aristotelische wie das von Horaz, zu einer Einheit verschmolzen, die für die Jahrhunderte zwischen 1500 und 1800 als 'die' aristotelische Nachahmungspoetik galt und eine große Breitenwirkung entfaltete, die sogar noch die Wende zur sogenannten Genie-Ästhetik, die die eigentlich moderne Ästhetik vorbereitet, maßgeblich bestimmt hat.
Mit diesen Unterschieden und diesen Entwicklungen wollen wir uns in dem geplanten Blockseminar befassen und zunächst die Hauptpositionen der Aristotelischen Poetik erarbeiten, um dadurch die Grundlage für einen Vergleich mit der ars poetica von Horaz zu gewinnen. Durch die Beachtung der charakteristischen Eigentümlichkeiten dieser beiden Basiskonzepte soll dann der Weg bis zum Beginn der genie-ästhetischen Wende an ausgewählten Positionen weiter verfolgt werden. Für die Wahl der Themen haben wir Vorschläge gemacht, die aber in Abstimmung mit den Dozenten geändert werden können.
Zur Vorbereitung und zur Einführung in die hier knapp skizzierte Auffassung von der Entwicklung der abendländischen Literaturtheorie stellen wir eine Reihe von Texten zur Verfügung, die auch für einzelne Referatthemen mitbenutzt werden können.
Der Aufsatz "Aristoteles und Horaz und ihre Bedeutung für zwei unterschiedliche Phasen der europäischen Literatur. Anmerkungen aus philologischer Sicht zur Einheitlichkeit der europäischen Literatur" führt in die allgemeine Problematik ein.
Der Aufsatz "Aristoteles, Poetik aus dem Neuen Pauly, Supplement 7. Die Rezeption der antiken Literatur" gibt einen Überblick über die Wirkungsgeschichte der Poetik von der Antike bis zur Gegenwart.
Der Aufsatz "Aristoteles über die Entstehung der Gattungsunterschiede in der Dichtung" kann vor allem mit seinem ersten Teil für die Erklärung der Gattungstheorie und auch für die Besonderheit des Handlungsbegriffs bei Aristoteles genutzt werden.
Der Aufsatz "Die Entgrenzung der Künste durch ihre Ästhetisierung bei Baumgarten" geht den Bedingungen der Genieästhetischen Wende nach und ist daher besonders für Interessierte an diesem Thema geeignet.
Themen für Referate und zur gemeinsamen Diskussion:
A) Aristoteles:
1) Zum Begriff der Nachahmung in der Poetik des Aristoteles (in den ersten drei Kapiteln der Poetik zeigt Aristoteles, dass jede Kunst ihre Gegenstände nicht als sie selbst, sondern immer in einem Medium und auf eine bestimmte Weise darstellt. Kapitel 1 behandelt die Medien und ihre Bedeutung für den Kunstcharakter von Literatur, Kapitel 2 die Gegenstände, Kapitel 3 den Modus der Darstellung. Aus den möglichen Verbindungen der drei Komponenten ergibt sich eine Einteilung der Dichtungsarten. In diesem Referat soll der sich aus dieser Konzeption ergebende Nachahmungsbegriff ermittelt und gegen ein Verständnis von Nachahmung als Nachahmung der Wirklichkeit oder der Natur abgegrenzt werden, außerdem soll die sich ergebende Gattungstheorie skizziert werden).
2) Zur besonderen Form der Erkenntnis, die die Produktion und Rezeption von Literatur möglich macht. (Grundlage dieses Referats soll der erste Teil des Kapitels 4 der Poetik sein -1448b4-1449a9 -. in dem Aristoteles die Fähigkeit des Menschen zum Nachahmen und die Freude daran als Ursachen für die Entstehung von Dichtung nennt und als Grund der Freude am Nachahmen angibt, dass sie eine Form des Erkennens ist. Ergänzt werden muss die Interpretation dieser Partie durch eine knappe Charakterisierung der verschiedenen Erkenntnisarten – vom wissenschaftlich expliziten Allgemeinen bis zur poetischen Einarbeitung des Allgemeinen in die einzelne Handlung, wie sie die antiken und mittelalterlichen Kommentare beschreiben ((für die Poetik v.a die arabischen Kommentare)). Die für die Poesie beispielhafte Erkenntnisform der Metapher – Kap. 23 – sollte mitberücksichtigt werden).
3) Die Bedingungen einer kunstgemäßen Handlungskomposition: a) Ganzheit und Einheit (In den Kapiteln 7 und 23 -1450b21-1451a15 u.1459a17-1459b7 und 8, 1451a16-35, unterscheidet Aristoteles die Aufgabe der Dichtung von einer Beschreibung wirklicher Vorgänge dadurch, dass sie eine durchkomponierte Einheit schaffen soll. Im Referat sollen die Bedingungen, die ausmachen, dass etwas ein Ganzes und eine Einheit, und zwar die Einheit einer Handlung -und nicht irgendwelcher Vorgänge – bildet, herausgearbeitet werden. Der Unterschied von Autobiographie und Geschichtsdarstellung von der Dichtung, wie ihn Aristoteles auffasst soll erklärt und gegen Missverständnisse abgegrenzt werden.)
4) Die Bedingungen einer kunstgemäßen Handlungskomposition:b) Die Handlungskomposition als Produkt der Verwirklichung der allgemeinen Tendenzen eines Charakters in einer einzelnen Handlung (Grundlegend für dieses Referat ist das zentrale Kapitel 9, va. 1451a36-b11 in Verbindung mit 1454a33-36. Es geht um die Wahrscheinlichkeit des Verhältnisses von Charakter und Handlung. Zu diesem Verhältnis äußert sich Aristoteles mehrfach, z.B. 1448a1-4; 48b24-27; 49b36-50a3; 50a16-50b4; 60a5-11; aus diesem Verhältnis ergibt sich die Bedeutung der Handlungskomposition, für die Aristoteles v.a. die homerischen Dichtungen zum Beispiel nimmt. Das kann man auch im Referat tun.)
5) Tragisches Handeln und die Erzeugung der Gefühle von Mitleid und Furcht in Epos und Tragödie (Textgrundlage ist neben Kap. 6,1449b24-28, das Kapitel 13, das ausführt, wie die beste Form der 'Katharsis' der Gefühle zustande kommt. Zur Erklärung kann man Beispiele aus Homer und der Tragödie anführen.)
B) Horaz:
6) Dichtung als 'gelehrte' Nachahmung der Muster menschlichen Verhaltens (Beachtet werden sollte v.a. der Anfang der ars, d.h. die Forderung nach Einheit und Ganzheit des Gegenstands, und deren Erfüllung durch 'gelehrte Nachahmung' der Muster menschlichen Verhaltens)
C) Die mittelalterliche Rezeption der Aristotelischen Poetik
7) Die Zuordnung der Poetik zur Theoria durch Avicenna (Grundlage sollte die Arbeit von Dahiyat: Avicenna's Commentary on the Poetics of Aristotle. A Critical Study with Annotated Translation of the Text, Leiden 1974, sein. Ein Kurzreferat über die Einleitung sollte auf die Geschichte der Rezeption und vor allem auf die Zuordnungssproblematik eingehen, die dann am Kommentar erläutert werden kann.)
D) Die neuzeitliche (Horizont-) Verschmelzung von Horaz und Aristoteles
I Die Renaissance in Italien (1550-1600)
8) Dichtung als Nachahmung des Allgemeinen der Wirklichkeit: das Ideale, Exemplarische, Übliche (Texte und Interpretationen bei Brigitte Kappl, Die Poetik des Aristoteles in der Dichtungstheorie des Cinquecento, S. 71-169)
9) Der unschuldig schuldige Held der Tragödie (Kappl 226-266)
10) Die tragischen Gefühle und ihre Aufgabe in der Dichtungen (Kappl 266-311)
II Von der Renaissance zur Aufklärung (die folgenden Referatsthemen bieten nur Beispiele, die auch durch andere Texte oder Autoren ersetzt werden können)
11) Die Befreiung der Phantasie durch das 'ingeniöse Denken': (z.B.) Baltasar Grazián, Arte de ingenio. Tratado de la agudeza
12) Nicolas Boileau, L'art poetique (Die 'doctrine classique': vraisemblance und bienséance als Darstellungsnormen, Bedeutung von Horaz und Pseudo-Longin für das Aristoteles-Verständnis)
13) Jean Racine, Phèdre (mit Vorrede) – im Vergleich mit dem 'Hippolytos' von Euripides
14) Lessings Annäherung an Aristoteles (einen Vergleich versucht: Eun-Ae Kim, Lessings Tragödientheorie im Licht der neueren Aristoteles-Forschung, Würzburg 2002, 58-76)
III Die 'genieästhetische Wende'
14) Alexander Gottlieb Baumgarten: Ersetzung der 'vernünftigen Dicht- und Erfindungskunst' (Gottsched) durch die 'aisthetiké epistéme (Sinneserkenntnis) (Im § 445 greift Baumgarten ausdrücklich auf den Anfang der ars poetica des Horaz zurück, um zu demosntrieren, dass sich die Kunst an der Ganzheit und Vollständigkeit des Gegenstands orientieren müsse, und in § 449 auf Lukrez, De rerum natura 4, 476ff; 504f. zurück, um zu begründen, weshalb dies nur durch die Sinneserkenntnis ('Ästhetik') geschehen könne. Dieser Zusammenhang mit hellenistischen Positionen selbst in der neuen 'Ästhtetik' sollte im Referat mit berücksichtigt werden.)
SchließenLiteraturhinweise
Zur allgemeinen Vorbereitung des Seminars verweisen wir noch auf folgende Literatur:
Else, G.F., Aristotle. Poetics, translated with an introduction and notes,Ann Arbor 1967.
Lucas, D.W., Aristotle, Poetics, Introduction, Commentary and Appendixes, Oxford 1968.
Halliwell, S., The Poetics of Aristotle: translation and commentary, London 1987.
Arbogast Schmitt, Aristoteles, Poetik, übers. und erl., Berlin 20112.
Kappl, B., Die Poetik des Aristoteles in der Dichtungstheorie des Cinquecento, Berlin/New York 2006.
Halliwell, S., The Aesthetics of Mimesis. Ancient Texts and Modern Problems, Princeton and Oxford 2002.
Radke (-Uhlmann), G., Die Kindheit des Mythos. Die Erfindung der Literaturgeschichte in der Antike, München 2007.
Radke (-Uhlmann), G., Tragik und Metatragik, Euripides'Backchen und die moderne Literaturwissenschaft, Berlin/New York 2003.
SchließenZusätzliche Termine
Mo, 21.07.2014 10:00 - 18:00 Di, 22.07.2014 10:00 - 18:00 Mi, 23.07.2014 18:00 - 20:00 Do, 24.07.2014 18:00 - 20:00 Fr, 25.07.2014 10:00 - 16:00