16218 Forschungsseminar

SoSe 21: Platon und Aristoteles zur Grundlage einer guten Politik und ihren Verfallstendenzen

Arbogast Schmitt

Kommentar

An welchen Kriterien kann man sich orientieren, wenn man gute Politik machen will? Wie kann man das Wohl des Einzelnen mit dem der Gemeinschaft so verbinden, dass beide Interessen optimal und gerecht verwirklicht werden können? Diese und ähnliche Fragen bewegen viele. Zuverlässige, für alle verbindliche und nicht immer neuen Zweifeln ausgesetzte Antworten scheinen nur schwer ermittelbar.
Den Lösungsvorschlag, der mit vielen Varianten am meisten diskutiert ist, bietet die sog. Vertragstheorie: Die Menschen ordnen sich einem gemeinsam akzeptierten Recht unter, um sich vor gegenseitigen Schädigungen zu schützen. Das für alle gültige Prinzip ist: Die Freiheit des Einzelnen wird nur durch die der Anderen eingeschränkt, da jedem das gleiche Recht auf freie Selbstbestimmung zusteht. Das Grundproblem dieser Theorie ist, dass sie keine Aussage über die Bedingungen, die ein Handeln frei machen, und wie man für ihre Verwirklichung sorgt, macht, sondern nur über das, was dem Einzelnen nicht erlaubt ist, und dass diese Aussage auch nur abstrakt und leer ist. Sie muss immer neu konkret bestimmt werden.
Enwickelt wurden Vertragstheorien schon in der Antike, von Sophisten und von Philosophen aus der Zeit des sog. Hellenismus (ca. 300 vor bis 100 n. Chr.), sie gelten aber in der Regel als moderne Staatstheorien und werden v.a. auf Hobbes, Locke, Hume, Rousseau und Kant zurückgeführt. Als Gegenposition gelten die ‚antik-mittelalterlichen‘ Staatskonzepte, die die Einzelnen einem Allgemeinwohl unterordnen, das aus Vernunftprinzipien (oft vertreten durch Philosophenherrscher, Eliten) oder aus allgemeingültigen Gesetzen (objektive Normen, Naturrecht) abgeleitet worden sei. An Stelle der freien Selbstbestimmung der Einzelnen scheint hier noch ein Autoritätsglaube vorzuherrschen.
Zu beiden Traditionen gibt es umfangreiche Forschungen. Bei der Beurteilung und Interpretation der antiken und mittelalterlichen Staatskonzepte gibt es aber fast durchgängig die Tendenz, sie von modernen Standpunkten aus zu beurteilen. Die Folge ist, dass die Urteilskritierien auf die Frage konzentriert sind, wie weit in den alten Lehren schon moderne Teilmomente enthalten sind. In der erreichten Modernität erkennt man die Vorzüge, in dem, was davon noch entfernt oder weit entfernt ist, die Mängel dieser Lehren, die eben deshalb in vielen Aspekten als widersprüchlich und inkonsistent gedeutet werden. Diese angeblichen Diskrepanzen sind ein Anlass dafür, die Aufmerksamkeit der Forschung auf eine genauere Ermittlung der Unterschiede zu richten: Sind die ‚alten‘ Lehrpositionen in sich unentwickelt oder sogar widersprüchlich oder erscheinen sie so aus einer vorurteilsbelasteten Perspektive, die die Höhe des eigenen Standpunkts gegenüber dem Alten und Fremden unkritisch für selbstverständlich hält. Für diese Vermutung bieten die Texte vielfache Gründe, mit denen wir uns in diesem Seminar ausführlich beschäftigen wollen – mit dem Ziel, gerade nicht von Vorurteilen auszugehen, sondern das Fremde in seinem eigenen Recht zu verstehen und als Gesprächspartner zurückzugewinnen.

Seminarplan:
Da wir uns mit den Grundlagen einer guten Politik beschäftigen wollen, sollen nicht nur Texte zur Theorie der Politik selbst gelesen und besprochen werden, sondern auch solche Texte, in denen Vorausetzungen, die nötig sind, um politisches Handeln zu verstehen. Zu den verschiedenen im Folgenden vorgeschlagenen Themenbereichen können auch Referate gehalten werden (bes. wenn eine Beurteilung der Seminarleistung gewünscht wird), ansonsten besprechen wir die Texte und Probleme gemeinsam. Zu vielen Themen können im Blackboard auch Aufsätze des Kursleiters (KL) abgerufen werden. Sie müssen nicht gelesen werden, man kann sie aber einsehen, um die Lehre im Seminar ausführlicher begründet zu bekommen. Natürlich können und sollen auch andere Forschungen benutzt werden, auch zur kritischen Korrektur dessen, was wir im Seminar diskutieren können.
Die im Folgenden vorgeschlagenen Themen beziehen sich öfter auf gleiche Grundlagen, die aber von verschiedenen Seiten beleuchtet werden müssen.

Themen, die in den Sitzungen behandelt werden sollen und zu denen auch Referate gehalten werden können (Änderungen können gemeinsam vereinbart werden):
1) Am Beginn soll die Frage stehen, weshalb Menschen überhaupt das Leben in einer staatlichen Gemeinschaft suchen (statt z.B. sich auf Familie, Clan, Dorf zubeschränken). In einem kurzen Überblicksreferat sollen die auch heute noch am meisten akzeptierten Antworten vorgestellt werden:
1,1 am Beispiel einer Rede des Sophisten Protagoras im platonischen Dialog Protagoras, 320c-324c (Recht und Moral als Schutz vor Schädigungen durch Andere; s. Bernd Manuwald, Platon, Protagoras, Übersetzung und Kommentar, Göttingen, Vandenhoeck &Rupprecht, 1999, 168-209)) und des Anfangs von Ciceros Staatsdialog de re publica (Menschen als gesellige Lebewesen wie z.B. Ameisen; v.a. Buch I, Kap. 39; dazu z.B. Karl H. Gugg, Cicero, in: Hans Maier, Heinz Rausch, Horst Denzer (Hgg), Klassiker politischen Denkens, I, 19866 - u.ö. - 70-93).

1,2 zwei Grundformen der Vertragstheorie in der Moderne:
1,2,1: Hobbes‘ Leviathan als Beispiel für den autoritäten Rechtsstaat als Schutz gegen wechselseitige Schädigung der Einzelnen. Dazu z.B. Wolfgang Röd, Geschichte der Philosophie VIII, Neuzeit 1, München, Beck 1978 (u.ö.), 164-171.
1,2,2: Rousseaus ‚Contrat social‘ als Beispiel für die Zerstörung einer ursprünglich friedlichen Welt durch die Bildung von Eigentum und die dadurch notwendige Untwerfung der Einzelnen unter den allgemeinen Willen (sc. das wechselseitige Recht auf Frieden zu erhalten). Dazu z.B. Wolfgang Röd, Geschichte der Philosophie VIII, Neuzeit 2, München, Beck 1984 (u.ö.),394-408)

2) Gründung des Staats aus einer Art Nutzenfreundschaft (man braucht einander, der Bauer den Schuster und Architekten, beide den Arzt, usw); allgemeines Ziel ist, jedem die Möglichkeit, seine eigenen Fähigkeiten zu entwickeln und auszuüben, zu geben
Grundtexte dafür sind: Platon, Politeía 368b-372c (mit dem Übergang zur ‚üppigen‘, kultivierteren Stadt) und
Aristoteles, Politik, Kap. I,1+I,2, (1252a1-1253aEnde) Literatur: Bruno Langmeier, Ordnung in der Polis, Verlag Alber, Freiburg,München, 2017, 35-80; KL, Der Einzelne und die Gemeinschaft n der Dichtung Homers und in der Staatstheorie bei Platon, Stuttgart, Steiner 2000, v.a.35-44 ; ders., Gerechtigkeit bei Platon. Zur anthropologischen Grundlegung der Moral in der Platonischen Politeia, in: D. De Brasi / S. Föllinger (Hgg.), Anthropologie in Antike und Gegenwart. Biologische und philosophische Entwürfe vom Menschen, Freiburg 2015, 279-328, v.a.289-295; 297-300.

3) „Handeln heißt, etwas vorziehen.“ Zur Ausrichtung des Handelns auf die Lust und ihre Vervollkommung. (s. Art. ‚Handlung‘ im Aristoteles- Handbuch, Stuttgart, Metzler Verlag 2011, 239-247; mit weiterer Literatur; s. auch KL, Aristoteles über die Entstehung der Gattungsunterschiede, in: Dunsch, Schmitt, Schmitz (Hgg), Epos, Lyrik, Drama, Heidelberg, Winter-Verl., 2013, 151-170).

4) Die Erfahrung von Lust – abhängig von der Art einer Tätigkeit und ihrer Vollendung (nach v.a. Nikomachische Ethik Buch 10, Kap. 4-7; s. dazu KL, Wie aufgeklärt ist die Vernunft der Aufklärung? Eine Kritik aus aristotelischer Sicht, Heidelberg, Winter 2016, 340-355.

5) Zum Unterschied der psychologischen Dreiteilung in Verstand, Gefühl und Wille und der Erklärung von Gefühlen aus der Verbindung von Lusterfahrungen mit davon ausgeösten Willensakten (bei Platon und Aristoteles). S. Artkel ‚Gefühl‘ von Ursula Franke und G.Oesterle, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Spalten 82-89; s. KL, Moral und Lust, Marburg 2017, Verlag Blaues Schloss, 29-38 und KL, Das Bewusste und Unbewusste in der Deutung durch die griechische Philosophie, in: ders., Denken ist Unterscheiden, Heidelberg, Winter 2020, 25-62. 5.1: Die drei Lebenformen bei Platon und Aristoteles: sinnliches Begehren (epithymía), Streben nach Anerkennung und Ehre (Thymós), Freude am Erkennen und Ausrichtung des Handelns am Lógos (logistikón) (Politeía, 432b-444a) (zu allen drei Formen s. KL, Gerechtigkeit bei Platon. Zur anthropologischen Grundlegung der Moral in der Platonischen Politeia, in: D. De Brasi / S. Föllinger (Hgg.), Anthropologie in Antike und Gegenwart. Biologische und philosophische Entwürfe vom Menschen, Freiburg 2015, 279-328; s. auch KL, Der Einzelne und die Gemeinschaft in der Dichtung Homers und in der Staatstheorie bei Platon, Stuttgart, Steiner 2000, v.a. 51-72.
5.2: Die Verfallsformen der drei Lebensformen, v.a. im Bereich sinnlichen Begehrens:
5.2.1: Oligarchisches Leben: Streben nach Besitz zum Lebenserhalt (Politeía , 550c-555a)
5.2.2: ‚Demokratisches Leben‘: Freier Genuss aller Formen der Lusterfahrungen (Poilteia, 555b-562a; s. KL zu Referat 5.2.3)
5.2.3: Übergang zu autoritär diktatorischem Verhalten: Weigerung, Unterschiede unter Lust- und Unlusterfahrungen anzuerkennen (Politeía, 562a-592b; dazu KL, Verbrechen und Schuld bei Platon und Aristoteles. Zur Unterscheidung und Bewertung moralischen Fehlverhaltens, in: Bochumer Jahrbuch für Antike und Mittelalter 16, 2013, 23-49).
5.2.4: Die ökonomischen Folgen für einen Staat ja nach der Vorherrschaft der verschiedenen Lebenformen (KL, Selbsterhaltung oder Selbstverwirklichung? Über die unterschiedliche Suche nach einem guten Leben in den hellenistischen Philosophenschulen und bei Platon und Aristoteles, in: Sabine Föllinger, Evelyn Korn, ‚Von besten und zweitbesten Regeln‘, Platonische und aktuelle Perspektiven auf individuelles und staatliches Wohlergehen, Wiesbaden 2019, 71-101).

6) Erziehung der Gefühle durch Literatur.
6.1: durch Darstellung scheiternden Handelns (Beispiele aus Homer: z.B. Achill, Hektor, Patroklos; und aus der Tragödie, etwa Medea oder Phaidra bei Euripides, Deianeira in Sophokles‘ Trachinierinnen, Aias in Sophokles‘ Aias). Dazu KL, Wesenszüge der griechischen Tragödie: Schicksal, Schuld, Tragik, in: Hellmut Flashar (Hg.), Tragödie. Idee und Transformation, Stuttgart/Leipzig 1997 (Colloquium Rauricum, Bd. 5), 3–47.

6.2: Gelingendes Handeln in schwieriger Situation, v.a. bei Odysseus in der Odyssee (v. Buch 20, Anfang, Buch 13 Gespräch Odysseus: Athene) Dazu KL, Tragik vor der Tragödie, in: Regina Töpfer, Gyburg Radke-Uhlmann (Hgg), Tragik vor der Moderne, Heidelberg, Winter 2015, 201-244, v.a. 218-222;
6.3: Gelingendes Handeln in komischer Utopie (z.B. Aristophanes Lysistráte, Acharner, Frieden) 6.4: Aristoteles‘ Theorie tragischen Scheiterns durch einen Mitleid und Furcht auslösenden Fehler (KL, Aristoteles, Poetik, übers.u.erl., Berlin 2011, 439-476).
6.5: Aristoteles‘ Theorie komischen Handelns in der Nikomachischen Ethik (KL; Aristoteles, Poetik, übers.u.erl., Berlin 2011, 302-321, v.a.315-321.

7.: Die Selbstliebe in ihrer besten Form: Grundlage aller Moral und für ein optimales Gemeinschaftsverhalten (nach Aristoteles Nikomachische Ethik, s. KL, Selbstliebe als Grund und Maß von Freundschaft und Liebe bei Aristoteles, in: Der Blaue Reiter, Journal für Philosophie 42, 2018, 36-41. (Direkt zur Ausgabe: https://www.derblauereiter.de/journal/journal/ausgaben/41-50/)

8.: Die Begründung von Natur- und Menschenrechten durch Aristoteles und ihre politische Bedeutung (s. Christoph Horn, Menschenrechte bei Aristoteles?, in: Girardet, Klaus und Nortmann Klaus (Hgg), Menschenrechte und europäische Identität. Die antiken Grundlagen, Stuttgart 2005, 105-122; s. auch KL, Menschenrechte in der Aufklärung und bei Aristoteles? Zur Begründung der Menschenrechte in unterschiedlichen Vernunftbegriffen, in: K. Seelmann (Hg.), Menschenrechte. Begründung - Universalisierbarkeit - Genese (Colloquium Rauricum Bd. 15), Berlin/Boston 2017, 154-186.

9.: ‚Summum ius, summa iniuria‘. Zur Anwendung von Gesetzen in der juristischen und politischen Praxis (z.B. wenn es um Natur- oder Menschenrechte geht, darf man sie einschränken?) Schließen

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