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Seminar
SoSe 21: Masse und Kritik
Nicola Zambon
Kommentar
Contact und contagious, contatto und contagio: die englische und die romanischen Sprachen weisen gemeinsame etymologische Wurzeln von zwei Begriffen auf, Berührung und Ansteckung, die miteinander deutlich verzahnter sind, als wir es noch bis vor kürzester Zeit wahrnehmen konnten. Doch der naturwissenschaftliche Befund, eine Krankheit könne sich auch durch Berührung verbreiten, ist eine späte Entdeckung, die sich erst am Ende des 19. Jahrhunderts als medizinisches Paradigma zwei anbrechender Disziplinen etablieren konnte: die Epidemiologie zum einen, die Massenpsychologie zum anderen. Die Geburt der Massenpsychologie aus dem Geist der Medizin ist kein Zufall: dadurch wird die Masse, die moderne Menschenmenge, zum Ort einer jeweils moralischen oder emotionalen, mentalen oder sozialen Ansteckung. Ideen, Gefühle, Gewalt – so die Grundidee – verbreiten sich wie ein Virus durch den sozialen Körper und infizieren hiermit auch die Geister. Die klinische Metaphorik verweist wiederum auf die negativen Züge, die die Menschenmasse im modernen Diskurs annimmt: Sie meint einen Organismus, der infektiös ist, der das Individuum in seinen Sog hereinzieht und es in sich auflöst. Zugleich trägt die Ansteckungsmetaphorik die mythologischen und religiösen Züge antiker Vorstellungen, in denen die Ansteckung als Befleckung verstanden wird: als Disqualifizierung durch einen moralischen Makel. In der Moderne wird die Menschenmenge zum Anderen der Aufklärung: Sie ist eine Kulturkatastrophe, deren Gewalt – wenn sie schon nicht gezähmt werden kann – dann doch eingedämmt werden muss.
Einem Bruchteil dieser Kulturgeschichte des modernen Massendiskurses widmet sich unser Blockseminar, das in zwei Teile halbiert wird. Im ersten Teil beschäftigen wir uns mit Sigmund Freuds Massenpsychologie und Ich-Analysen, das vor hundert Jahren publiziert wurde, ebenso wie mit Freuds wichtigsten Vorgängern, Hippolyte Taine, Gustave Le Bon und Gabriel Tarde, die zu den Gründungsfiguren der sogenannten Massenpsychologie zählen – eine Wissenschaft, die – obwohl aufgrund ihrer ideologischen Züge weitestgehend disqualifiziert – noch eine grundlegende Rolle darin spielt, wie wir heute über Menschenmenge denken und sprechen. Im zweiten Teil des Seminars setzen wir uns mit der Rezeption von Freud und der kritischen Aufarbeitung seiner Ideen auseinander. Gelesen werden Auszüge aus Adorno und Horkheimers Dialektik der Aufklärung, Emil Lederers The State of the Masses. The Threat of the Classless Society, Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, und Peter Sloterdijks Die Verachtung der Massen.
Das Blockseminar findet an vier intensiven Arbeitstagen statt, an denen wir die Texte gemeinsam lesen und kontextualisieren, kritisieren und deuten werden. Studierende, die an einer Teilnahme interessiert sind, bitte ich darum, an der Besprechungssitzung teilzunehmen, die am 21. April (16–18 Uhr) in meinem Webex-Raum stattfindet. Aufgrund der schwierigen Umstände muss die Zahl der Teilnehmenden beschränkt werden: Bei der Teilnahme wird daher um Verbindlichkeit nachdrücklich gebeten.
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Literaturhinweise
Einführende Literatur:
Susanna Barrows: Distorting Mirrors. Visions of the Crowd in Late Nineteenth-century France. New Haven 1981.
Michael Gamper: Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge. München 2007.
Susanne Lüdemann: Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären. München 2004.
Robert Nye: The Origins of Crowd Psychology. Gustave Le Bon and the Crisis of Mass Democracy in the Third Republic. London 1975.
Jaap van Ginneken: Crowds, Psychology and Politics. Cambridge 1984.
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Zusätzliche Termine
Mi, 21.04.2021 16:00 - 18:00 Fr, 25.06.2021 10:00 - 16:00 Sa, 26.06.2021 10:00 - 16:00 Fr, 02.07.2021 10:00 - 16:00 Sa, 03.07.2021 10:00 - 16:00