13262
Hauptseminar
WiSe 22/23: Selbst und Individuum in der Geschichte: Autobiographie, Biographie und historische Forschung vom 17. bis zum 21. Jahrhundert
Paul Nolte und Kerstin Pahl
Kommentar
Auto-/Biographisches Schreiben als Mittel der Erforschung und der Darstellung von Geschichte sind aus wissenschaftlichen und populären Diskursen nicht mehr wegzudenken. Der Bogen reicht von den klassischen „großen Individuen“ über mikrohistorische Erfahrungsgeschichten des Alltags „kleiner Leute“ zu sozialgeschichtlichen Kollektivbiographien (und weiter). Zugleich erweitert sich das Feld der sogenannten „life writing studies“ stetig durch kulturell neu entdeckte oder technologisch neuartige „Ego-Genres“ (u.a. Patientenberichte, Online-Fora, Blog Diaries und sogar visuelle Genres, wie Graphic Novels oder Selfies).
Die mächtige Präsenz der individuellen Lebensgeschichte scheint ein Signum des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts, reicht aber viel weiter zurück. Der Aufstieg der Auto-/ Biographie ist eng mit Entwicklungen der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte seit dem Empirismus und der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts verwoben, etwa der Betonung von Individualität, Differenz und zugleich sozialer Ähnlichkeit. Geschichte bzw. historische Reflexion wurde zur Leitdisziplin sich bildender Nationen mit einem den Naturwissenschaften vergleichbaren empirischen Anspruch. Neue Modi der Intimität entstanden, die das europäisch-bürgerliche Selbstverständnis von verinnerlichter Subjektivität vermittelten.
Viele dieser Stränge sind bis heute wirksam oder haben sich in neuen Schüben artikuliert, etwa in der kulturellen Revolution der Subjektivierung und der „Betroffenheit“ seit den 1960er Jahren. Die historisch-politischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts haben neue Horizonte der biographischen (Selbst-)Thematisierung erzeugt: im Lichte von Katastrophen und Verfolgungen; als Narrative des Scheiterns, des Überlebens oder nicht lösbarer Verstrickungen des Einzelnen. Dazu tritt im digitalen Zeitalter die Dokumentation des Ich in Jetzt-Zeit in den sozialen Medien.
Das Seminar führt in die Geschichte der Auto-/Biographie als Mittel der historischen Forschung einerseits und der Vermittlung von Geschichte andererseits ein. Ausgewählte Texte aus dem 17. bis 21. Jahrhundert vermitteln exemplarisch einen Eindruck von der Formierung und Entwicklung des Genres in Europa und dem transatlantischen Raum. Wir besprechen klassische Theorien und Ansätze („Great Man Theory“, „history from below“), das Verhältnis von Diskurs und Erfahrung oder Biographie als politische Intervention. Wir fragen an Beispielen nach den Schnittstellen von individueller Erfahrung und historischer Konstellation des aufgeschriebenen Lebens.
Die Quellenauswahl ist multimedial angelegt: Neben dem klassischen Buch finden illustrierte Geschichten, Graphic Novels oder aufgezeichnete Interviews Berücksichtigung. – In den Referaten und Hausarbeiten können Schwerpunkte auch nach individuellen Interessen gesetzt werden. Je nach Themenwahl für die schriftliche Hausarbeit kann das Seminar für Module der Frühen Neuzeit und der Neuesten Geschichte angerechnet werden. Schließen
Die mächtige Präsenz der individuellen Lebensgeschichte scheint ein Signum des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts, reicht aber viel weiter zurück. Der Aufstieg der Auto-/ Biographie ist eng mit Entwicklungen der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte seit dem Empirismus und der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts verwoben, etwa der Betonung von Individualität, Differenz und zugleich sozialer Ähnlichkeit. Geschichte bzw. historische Reflexion wurde zur Leitdisziplin sich bildender Nationen mit einem den Naturwissenschaften vergleichbaren empirischen Anspruch. Neue Modi der Intimität entstanden, die das europäisch-bürgerliche Selbstverständnis von verinnerlichter Subjektivität vermittelten.
Viele dieser Stränge sind bis heute wirksam oder haben sich in neuen Schüben artikuliert, etwa in der kulturellen Revolution der Subjektivierung und der „Betroffenheit“ seit den 1960er Jahren. Die historisch-politischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts haben neue Horizonte der biographischen (Selbst-)Thematisierung erzeugt: im Lichte von Katastrophen und Verfolgungen; als Narrative des Scheiterns, des Überlebens oder nicht lösbarer Verstrickungen des Einzelnen. Dazu tritt im digitalen Zeitalter die Dokumentation des Ich in Jetzt-Zeit in den sozialen Medien.
Das Seminar führt in die Geschichte der Auto-/Biographie als Mittel der historischen Forschung einerseits und der Vermittlung von Geschichte andererseits ein. Ausgewählte Texte aus dem 17. bis 21. Jahrhundert vermitteln exemplarisch einen Eindruck von der Formierung und Entwicklung des Genres in Europa und dem transatlantischen Raum. Wir besprechen klassische Theorien und Ansätze („Great Man Theory“, „history from below“), das Verhältnis von Diskurs und Erfahrung oder Biographie als politische Intervention. Wir fragen an Beispielen nach den Schnittstellen von individueller Erfahrung und historischer Konstellation des aufgeschriebenen Lebens.
Die Quellenauswahl ist multimedial angelegt: Neben dem klassischen Buch finden illustrierte Geschichten, Graphic Novels oder aufgezeichnete Interviews Berücksichtigung. – In den Referaten und Hausarbeiten können Schwerpunkte auch nach individuellen Interessen gesetzt werden. Je nach Themenwahl für die schriftliche Hausarbeit kann das Seminar für Module der Frühen Neuzeit und der Neuesten Geschichte angerechnet werden. Schließen
Literaturhinweise
Thomas Etzemüller, Biographien. Lesen, erforschen, erzählen, Frankfurt 2012; Bernhard Fetz u. Wilhelm Hemecker (Hg.), Theorie der Biographie, München 2011 (darin u.a.: Pierre Bourdieu, Die autobiographische Illusion, S. 303-310); Konrad H. Jarausch, Broken Lives: How Ordinary Germans Experienced the Twentieth Century, Princeton 2018; Christian Klein (Hg.), Handbuch Biographie. Methoden, Theorien, Traditionen, Stuttgart 2009; Anja Tippner u. Christopher F. Laferl (Hg.), Texte zur Theorie der Biographie und Autobiographie, Stuttgart 2006; Kevin Sharpe und Stephen N. Zwicker, Writing Lives. Biography and Textuality, Identity and Representation in Early Modern England, Oxford University Press, 2012; Tobias Heinrich, Leben lesen. Zur Theorie der Biographie um 1800, Böhlau 2016; Hans Renders, Binne de Haan, Jonne Harmsma; The Biographical Turn: Lives in History, Routledge 2017. – Ausführliche Literaturhinweise im Seminar. Schließen
16 Termine
Regelmäßige Termine der Lehrveranstaltung
Mi, 19.10.2022 10:00 - 12:00
Mi, 26.10.2022 10:00 - 12:00
Mi, 02.11.2022 10:00 - 12:00
Mi, 09.11.2022 10:00 - 12:00
Mi, 16.11.2022 10:00 - 12:00
Mi, 23.11.2022 10:00 - 12:00
Mi, 30.11.2022 10:00 - 12:00
Mi, 07.12.2022 10:00 - 12:00
Mi, 14.12.2022 10:00 - 12:00
Mi, 04.01.2023 10:00 - 12:00
Mi, 11.01.2023 10:00 - 12:00
Mi, 18.01.2023 10:00 - 12:00
Mi, 25.01.2023 10:00 - 12:00
Mi, 01.02.2023 10:00 - 12:00
Mi, 08.02.2023 10:00 - 12:00
Mi, 15.02.2023 10:00 - 12:00